Donnerstag, 9. Juni 2011

156: Näherungslösungen

Der Berliner Hauptbahnhof hat kürzlich seinen fünften Geburtstag gefeiert und man hat sich an ihn gewöhnt, auch wenn das Feuilleton sich an seinen realen oder imaginierten architektonischen und städtebaulichen Schwächen weiterhin abarbeitet. Man hat sich auch daran gewöhnt, dass nahezu alles, was den Bahnhof räumlich und logistisch umgibt, den Charme des Provisorischen atmet. Als er fertiggestellt wurde, gab es nahezu keine angrenzende Bebauung, beide Vorplätze waren nur vorläufig hergerichtet, und weder Nord-Süd-S-Bahn-Linien noch U-Bahn noch Straßenbahn hielten.
All dies ändert sich mittlerweile schrittweise. Um den Bahnhof herum entstehen zögerlich, aber nachdrücklich die ersten Teile der neu zu entwickelnden Stadtviertel, für die bereits teilweise die Erschließungsstraßen herumliegen; dazu gehören unter anderem gleich mehrere Low-Budget-Hotels, über die viel geschimpft wurde, die ich persönlich aber bloß als logischen und unvermeidlichen Teil eines Bahnhofsumfelds empfinde. Der südliche Vorplatz wird mittlerweile weitgehend endgültig ausgebaut - weitgehend endgültig deswegen, weil immer noch nicht klar ist, ob und für wen der dort vorgesehene kubische Solitärbau, der das Zeug zu einem der exponiertesten und auffälligsten Firmenhauptquartiere Deutschlands hat, entstehen wird. Die U-Bahn hält seit August 2009 in der Tiefebene, fährt von dort zwei touristisch sehenswürdig hergerichtete Stationen weit zum Brandenburger Tor und harrt der Fertigstellung ihrer Verlängerung zum Alexanderplatz.
Und seit drei Tagen tut sich auch, was die S-Bahn und die Straßenbahn angeht, etwas. Für einen dreistelligen Millionenbetrag wird eine nördliche S-Bahn-Zuführung geschaffen, die in beide Richtungen in die Ringbahn einbindet. Da hiermit ein weitgehendes Aufreißen des nördlichen Bahnhofsvorplatzes und der diesen querenden Invalidenstraße verbunden ist, wird im selben Aufwasch die genannte Straße gleich mit umgebaut und dabei auch die 2200 Meter lange Straßenbahnverlängerung vom Nordbahnhof zum Hauptbahnhof erstellt. Nach Süden soll die neue S-Bahn-Anbindung in einem zweiten Bauabschnitt zum Potsdamer Platz verlängert werden, und irgendwann in frühestens zirka 20 Jahren soll sie beim Gleisdreieck an die Strecke durch Schöneberg und diese wiederum durch eine wiederherzustellende Verbindungskurve auch im Süden an die Ringbahn angeschlossen werden.
All das ist teuer, kompliziert und dauert. Wie im Prellblog schon des öfteren thematisiert, haben Verkehrsbauten, gerade wenn sie die Eisenbahn betreffen, zunehmend systemintegrierenden Charakter und tendieren daher nicht nur in dem, was tatsächlich irgendwann gebaut wird, sondern vor allem im Konzeptions- und Planungsvorlauf zu ausufernder Komplexität. Die U-Bahn-Verlängerung vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof, deren Hauptteil derzeit in Bau ist, zeigt wiederum, dass sich nicht nur die verschiedenen Verkehrsnetze und Entwicklungsziele miteinander verzahnen, sondern auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Der Wiederaufbau des Stadtschlosses als Humboldt-Forum muss der Fundamente wegen mit dem Bau der U-Bahn koordiniert sein, dafür sind nun wieder archäologische Rettungsgrabungen notwendig, die Funde freigelegt haben, die das Schlossprojekt bereits beeinflusst haben und auch die Idee, eventuell doch größere Teile der Berliner Altstadt zu rekonstruieren, beflügeln. Grundsätzlich geschehen beim Bau jeder größeren Bahnstrecke in einer Großstadt auch so genannte Bauvorleistungen beziehungsweise werden solche genutzt - vorsorglich angelegte Tunnelabschnitte, freigehaltene Geländestreifen und zum einfachen Abriss vorgesehene Gebäudeteile sprenkeln die Karte.
In einer Zeit, in der man einerseits gar nicht mehr so heimlich die Idee übergreifender, diskursarmer Planung, technokratischer Strategien, des Durchschlagens von Entscheidungsknoten bejubelt (China! China, und immer wieder China!), andererseits aber radikale Eingriffe in staatliche Planung durch Partizipation von unten gefordert werden (Oben bleiben!), lohnt es sich, Phänomene wie die Peripherie des Berliner Hauptbahnhofs in den Blick zu nehmen und sich bewusst zu machen, dass die notwendige Unvollkommenheit allen menschlichen Strebens, dass Zeitaufwand, iterative Entwicklung und Entscheidungsfindung, unbeabsichtigte Nebenfolgen und Eigendynamiken sich nicht ausblenden lassen.

Bild: »Uglynoid« bei Flicker (Details und Lizenz)

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