Dienstag, 31. August 2010

Gelenkeinheit

Liebes Publikum, ich bin zurück aus dem Urlaub! Da ich dort vollständig offline war (nicht einmal ein Handy hatte ich dabei) und mir zu spät eingefallen ist, dass es nett wäre, das hier auch zu avisieren, wussten wahrscheinlich viele gar nicht, was mit mir los war. Die Zeit habe ich jedenfalls genutzt, um ganz klassisch mit Federhalter und Papier einen langen Artikel zu schreiben, den ich in drei Teilen posten werde; er fasst in etwas längerer und reflektierterer Form einige Themen zusammen, die ich schon öfter behandelt habe, ich hoffe trotzdem, er gefällt.

135: Der Sprachtunnel (1/3)

Es gibt eine Schönheit des Eisenbahnfahrens, die nichts mit Nostalgie, Pünktlichkeit, Komfort, »Service« oder »Entschleunigung« zu tun hat, und die einen Reiz dieses Verkehrsmittels ausmacht, der sich einer Messung an allgemeineren Parametern entzieht. Auch ein Bus, ein Auto, ein Schiff können altmodisch, pünktlich, komfortabel oder langsam sein. Aber nur Eisenbahn fühlt sich an wie Eisenbahn - egal, ob bei sechzig oder bei dreihundert Kilometern pro Stunde. Das mag mit der Fahrphysik, der präzisen, passiven, linearen Führung durch das Gleis zu tun haben, die sich grundlegend vom mehr oder minder freien Finden eines Weges in der Fläche unterscheidet (siehe Prellblog 134 von letzter Woche), aber auch mit der großen Schlankheit und Flexibilität des Fahrzeugs, die immer wieder unterschiedliche Blicklinien durch dessen Inneres und, in engen Kurven, zurück auf sein eigenes Äußeres ermöglicht. Es mögen auch die Ziele sein: da die wenigen wirklich sehenswerten und stadtnahen Schiffsanleger dieser Welt kaum Linienverkehr kennen und Busbahnhöfe selten über reine Tiefgaragenarchitektur hinauskommen, wird die Eisenbahn in ihrer Eigenschaft, große, gestaltete Gebäude im Stadtraum taktmäßig zu vernetzen, noch mindestens so lange alleine stehen, bis die Agglomerationen um die Flughäfen den Charakter überdimensionaler Gewerbegebiete abgelegt haben und urban geworden sind, was noch viele Jahre dauern mag.
Diese Einzigartigkeit der Eisenbahn vor allen ökonomischen, ökologischen und raumplanerischen Überlegungen ist es vielleicht auch, die öffentliche Diskurse zum Thema so irrational macht und immer wieder mit »Fachfremdem« belastet.
Bezeichnend hierfür ist beispielsweise die Beiläufigkeit, mit der unlängst die Zerstörung des Kölner Stadtarchivs durch den Bau der Nord-Süd-Stadtbahn (Prellblog 86) zum paradigmatischen Symbol für »neoliberalen« Städtebau erklärt wurde (sinngemäß zitiert: »eine ganze Stadt verliert ihr Gedächtnis«). So grauenvoll dieses Unglück war, so ungerechtfertigt ist es, den Bau eines U-Bahn-Tunnels, wie er sich seit Februar 1860 immer wieder auf der ganzen Welt vollzieht, im Dienste einer Kritik an planerischem Zeitgeist zu einem Hieb zu stilisieren, den das Kapital gegen das kulturelle Erbe geführt habe - als seien vergleichbare Unglücke nicht in diesen 150 Jahren immer wieder geschehen, als sei der Umgang mit sedimentierter Geschichte irgendwann einmal respektvoller gewesen als in unserem postmodernen Zeitalter, als sei es nicht genau diese unsere Zeit gewesen, in der die flächendeckende Überbaggerung von Altstadtvierteln, Industriedenkmälern und jüdischen Friedhöfen, die - auch in der Bundesrepublik! - gängige Praxis war, endlich aufgehört hat.
Die Saat ist jedenfalls aufgegangen: Tunnelbau in Städten an sich ist einigen zu einer Chiffre für Widersinn, Rücksichtslosigkeit und Zerstörung geworden, sei es des Stadtarchiv-Einsturzes wegen oder aus anderen Gründen. Zumindest gilt dies für den derzeit anlaufenden Umbau der Bahnanlagen in Stuttgart, wo die Gegner der beschlossenen, radikalen Tunnel- und Tiefbahnhoflösung, vulgo »Stuttgart 21« (Prellblog 19, Prellblog 90), es anscheinend tatsächlich geschafft haben, sich und anderen ein nicht minder radikales Konzept, das das Hindurchschlagen einer riesigen Damm- und Ständertrasse durchs enge Neckartal vorsieht (»Kopfbahnhof 21«) und dabei noch nicht einmal ganz auf lange Tunnels verzichtet, als »sanftere Alternative« zu verkaufen. Ohne das spezifische Numen, das Eisenbahnthemen zuzukommen scheint, wäre dies nicht denkbar - nie ist um irgend einen der vielen innerstädtischen Straßentunnel in Deutschland eine Diskussion in vergleichbarem Tonfall geführt worden (»kaltblütiger Mord an der Stadt«, »Ende der Demokratie«). Wörter wie »Tunnelbau« oder »Tiefbahnhof« drohen im Eisenbahnkontext zu ähnlich sinnentleerten Aufregervokabeln zu werden wie »Geldverschwendung«, »Verkehrsinfarkt«, »Privatisierung«, »Börsengang«, »Abhängen ganzer Regionen«, »Prestigeprojekt« und so weiter. Diese Wörter machen das Realitätsentrückte und Formelhafte deutscher Eisenbahndiskurse aus, so wie Sätze wie »Du hast mich doch nie wirklich geliebt« oder »Lass uns einfach fortgehen« die künstliche und erstarrte Sprache deutscher Fernsehkrimis ausmachen, die in den letzten Monaten immer wieder kritisiert worden ist. Es ist zu befürchten, dass diese Formelsprache mittlerweile auch das Medium ist, in dem sich die bahnpolitischen Prozesse abspielen; dass diese mithin keinerlei Bezug mehr zu der Ministerial- und Unternehmensbürokratie haben, die ihre Ergebnisse umsetzen soll.
(Teil 2 von 3 folgt am 6. September)

Bild: Frederick S. Williams bzw. unbekannter Illustrator 1852, via Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Mittwoch, 4. August 2010

134: Nothing Like It in the World

Heute ein Beitrag zum einem meiner Lieblingsthemen: nämlich dazu, warum es sinnlos ist, aus landläufig Bekanntem über den Straßenverkehr irgendwelche Schlussfolgerungen über die (leider landläufig eher weniger bekannten) technischen Möglichkeiten der Eisenbahn zu ziehen.

Dabei soll es zunächst nur um Fragen der Fahrtechnik gehen (eventuell bekommt dieser Beitrag eine Fortsetzung).
Dass Züge unwahrscheinlich lang sind, verglichen mit Autos, werden noch die meisten wissen.
Die Fahrphysik selbst eines verhältnismäßig kurzen Eisenbahnfahrzeuges unterscheidet sich grundlegend von der eines kraftbetriebenen Straßenfahrzeugs. Zunächst einmal ist der so genannte Haftreibungsbeiwert, der charakterisiert, wie viel Kraft das Fahrzeug in die Schienen beziehungsweise die Fahrbahn einleiten kann, bei der Eisenbahn selbst im allerbesten Fall ein Drittel geringer als beim Straßenfahrzeug, und generell arbeitet man mit Richtwerten, die nur unwesentlich über denen liegen, die ein Auto auf Glatteis erreicht. Deswegen ist es erstrebenswert, möglichst viel Gewicht auf die angetriebenen Achsen zu bringen, und so wiegt eine moderne Lokomotive in der Regel ungefähr viermal so viel wie die höchste überall zulässige Achslast auf den Strecken, wo sie eingesetzt werden soll, also ungefähr 80 Tonnen. Auf der Straße wäre das allein schon ein Schwertransport (und ist es auch, wenn Lokomotiven auf Tiefladern bewegt werden).
Reibung spielt auch in der Querrichtung eine Rolle: Während der Seitenhalt, also die Reibung zwischen Reifen und Fahrbahn in Querrichtung, bei Straßenfahrzeugen eine Schlüsselqualität ist, da er allein dafür sorgt, dass das Auto nicht aus der Kurve fliegt, hat diese Querreibung bei Schienenfahrzeugen, da sie durch konische Radreifenprofile und Spurkränze zwangsweise auf den Schienen geführt werden, hauptsächlich den Zweck, den so genannten Sinuslauf (Prellblog 23) zu dämpfen und zu regulieren, damit eben die Spurkränze möglichst wenig mit den Schienen in Berührung kommen. Da dank Betriebsprogramm und Fahrplan ziemlich klar bekannt ist, welche Züge mit welchen Geschwindigkeiten durch Kurven fahren werden, passt man die Überhöhung der Außenschiene über die Innenschiene diesen Werten recht präzise an, um die Kurvenkraft durch die Schwerkraft teilweise zu kompensieren.
Nicht zufällig sind für Bahngleise auch Querneigungen von 12,5 % zugelassen, mithin mehr als anderthalb mal so starke wie bei Straßen. Das Gefühl, in einem Fahrzeug zu sitzen, das bedrohlich schräg steht, kennt man daher nur aus in Kurven haltenden Zügen, in Bussen ist es selten. Straßen werden, wenn man von alten Autobahnen absieht, normalerweise nur zur Entwässerung quer geneigt, was wiederum bei Gleisen sinnlos wäre - die effektive Neigung ist ja nur die zwischen den beiden Schienenköpfen, und selbst wenn irgend ein Teil des Unter- oder Oberbaus quer geneigt sein sollte, kann man durch entsprechende Höhenanpassungen das Gleis völlig horizontal belassen.
Da sich Züge ihre Fahrlinie nicht aussuchen können wie ein Auto, werden auch die Übergänge, mit denen Kurven eingeleitet werden, schon seit Langem mittrassiert, was bei Straßen noch eine recht junge Idee ist; diese Übergänge sind gleichzeitig Überhöhungsrampen (also den ruckfreien Wechsel vom horizontalen zum seitlich geneigten Gleis) und Übergangsbögen (also den ebenfalls ruckfreien Wechsel vom geraden zum kreisförmig gekrümmten Gleis) und daher hochkomplizierte Kurven vierter oder fünfter Ordnung im dreidimensionalen Raum.
Die Bedeutung der Seitenneigung für den ganzen Eisenbahnbetrieb zeigt sich auch in Entwicklungen wie der Neigetechnik, die zwar in ihrer radikalen Form auf Grund ständiger technischer Schwierigkeiten in vielen Ländern und auch sonst aus einigen Gründen nicht mehr sehr populär ist (Prellblog 7), oder ihrer sanfteren Schwester, der bogenabhängigen Wanksteuerung über die Luftfedern, bei der hauptsächlich die natürliche Wankneigung der Wagenkästen aktiv kontrolliert wird, um näher an den Grenzwerten fahren zu können; das eine Prozent aktive Einwärtsneigung, das damit möglich ist, zählt eher als kleiner Bonus. (Gibt es schon in Japan, demnächst auch in der Schweiz.)

Daher der große Unterschied zwischen dem, was Autofahrwerke, und dem, was die Lauftechnik von Zügen leisten soll: Beim Auto sorgt ein gutes Fahrwerk dafür, dass man schnell und eng durch Kurven lenken kann. Ein Zug wird durch die millimetergenau trassierten Gleise durch die Kurven gelenkt und mechanisch sicher in ihnen gehalten; ein gutes Laufwerk soll dies vor allem komfortabel und ohne großen Schienenverschleiß wegstecken, und zwar bei möglichst hohen Geschwindigkeiten, ohne jedoch zu entgleisen. Ein Auto bewegt sich; ein Zug wird bewegt.

Bild: Terry Rogers (»terry1054«) bei Flickr (Details und Lizenz)