Samstag, 5. September 2009

107: Alles elektrisch

Im Prellblog war schon öfters die Rede von Weichen und Signalen, von eingleisigen Strecken, Überholungen, Kreuzungen und Zugbeeinflussungssystemen; noch nicht war die Rede davon, was ein Stellwerk eigentlich ist und tut.

Wenn dies nicht das Prellblog wäre, würde ich an dieser Stelle ausholen und über Hebel, Drahtzüge, Seilrollen, Blockfelder und Verschlussregister reden, auch über Gleisbilder, Spurkabel und Türme, bis obenhin vollgestopft mit Relais. Mir geht es hier aber nicht um Vergangenheit, sondern um Gegenwart, und da sind Stellwerke durch die Bank elektronische Stellwerke (ESTW) und damit letztlich bloß besondere Formen von Computeranlagen.

In Deutschland operieren mittlerweile mindestens fünf Hersteller solcher Systeme (Siemens, Thales, Bombardier, Westinghouse, Scheidt & Bachmann). Ihre Produkte unterscheiden sich in Aufbau und Leistung stark voneinander, aber das Grundprinzip ist eigentlich immer dasselbe:
Irgendwo sitzt, typischerweise in einem Raum mit einer Kaffeemaschine und einem Gummibaum, gerne in einer Zentrale, wo für ein Fünftel des Landes der Bahnverkehr gelenkt wird, jemand vor einem mehr oder minder großen Übersichtsbildschirm mit dem Gleisplan des gesamten Bereichs, in dem das Stellwerk stellt. Vor sich hat er einen Arbeitsplatz, wo ein kleinerer Bildschirm einen Ausschnitt aus diesem Gleisplan darstellt. Grafisch verströmen diese Anzeigen den Charme der achtziger Jahre (Bild).
Hier können nun per Maus oder Tastatur Stellbefehle gegeben werden - typischerweise bestehen diese im Einstellen einer Fahrstraße (der gesicherte Korridor aus Prellblog 53) von einem Startsignal zu einem Zielsignal.
Die Bedieneinheit kommuniziert mit einem Zentralrechner, der heutzutage wohl meist aus einem Regal voller handelsüblicher Server besteht; dieser wiederum kommuniziert mit dezentral aufgestellten, weitgehend autarken Rechnern, die in kleinen, hässlichen Fertighäuschen aus Beton entlang der Gleise verteilt sind. Wenn der Ausführung des Befehls nichts im Wege steht, werden aus diesen Häuschen heraus Weichen umgestellt (in Deutschland geschieht dies grundsätzlich mit Elektromotoren) und Signallampen werden aus- und andere eingeschaltet.

Das alles wäre harmlos, wenn nicht die (gerade in Deutschland) extrem hohen Sicherheitsanforderungen für den signaltechnisch sicheren Betrieb wären. Das fängt dabei an, dass die Benutzeroberfläche in der gezeigten Pacman-Qualität gerne von zwei im Wechsel- oder im Vergleichsbetrieb arbeitenden Grafikkarten dargestellt wird, um zu vermeiden, dass ein Grafikfehler zu einer falschen Interpretation des Gleisbildes führt. Dann sind natürlich die beteiligten Rechnersysteme redundant ausgeführt, dergestalt, dass entweder zwei Einheiten im Gleichtakt arbeiten und eine Störung melden, wenn sie sich nicht einig sind, oder dass drei Einheiten parallel betrieben werden, bei denen gegebenenfalls eine gestörte Einheit von den anderen beiden überstimmt werden kann. Kommunikationswege sind schwer abgesichert. Die dezentralen Rechner sind häufig in der Lage, weiter Sicherheitsfunktionen zu übernehmen, wenn der Kontakt zur Zentrale abreißt.
Die Software, die sicherstellt, dass feindliche Fahrstraßen sich ausschließen (auf deutsch: dass keine Situation hergestellt wird, in der Züge zusammenstoßen könnten), muss sich an strengste Zertifizierungsprozesse halten und wird generell mathematisch verifiziert. Diese Beweisführung, das die Software wirklich in keinem Fall falsch agieren kann, wird sonst zum Beispiel für die Steueranlagen von Atomkraftwerken oder Flugzeugen verwendet. Anderswo ist das wegen der hohen Kosten selten.

Das erklärt dann zumindest teilweise die Apothekenpreise im, bei großen Knotenpunktbahnhöfen, durchaus dreistelligen Millionenbereich. Die aufwändige Zertifizierung der Software ist auch der Grund, warum Änderungen im Stellbereich (zum Beispiel durch Anschließen eines neuen Anschlussgleises mit Weiche) sehr teuer sind. Es hält sich hartnäckig das Vorurteil, früher sei so etwas quasi mit Blumendraht und Lötkolben gegangen, heute müsse man dafür so viel zahlen wie für eine komplette Neueinrichtung der gesamten Anlage. So krass ist es zwar nicht (mehr), aber elektronische Stellwerke haben durchaus ihre Kritikerinnen. Dass die DB zur Kostenminimierung die Einrichtung eines ESTW meistens zum Wegreißen so vieler »überflüssiger« Gleise und Weichen nutzt wie möglich, hilft da nicht besonders.

Bild: Daniel Rutenberg bei Wikipedia (Details und Lizenz)

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das mit dem wegreissen von "nicht beötigten" gleisen trift leider nicht nur bei der DB zu.

Anonym hat gesagt…

Wieso erwähnst du nicht, dass Estw vollautomatisch funktionieren?

mawa hat gesagt…

Weil sie das nicht notwendigerweise tun, weil auch nicht-elektronische Stellwerke automatisiert sein können und weil es darüber irgendwann einen eigenen Artikel geben soll.