Donnerstag, 27. Dezember 2007

41: Schichtstufen

Da es entgegen der populären Auffassung nie einen definitiven Startschuss für das System Eisenbahn, wie wir es heute kennen, gegeben hat, sondern es sich buchstäblich über Jahrhunderte entwickelt hat, lässt sich schwer sagen, wann zum ersten Male Fahrgäste befördert wurden. (Kleine Anmerkung zum eisenbahnerischen Sprachgebrauch: Man spricht von Fahrgästen, denn Passagiere gibt es nur in der See- und Luftfahrt. Außerdem werden Fahrgäste immer befördert, niemals transportiert - das werden nur Güter.)

Ziemlich sicher ist jedoch, dass die ersten Bahnreisenden Mitfahrer auf pferdegezogenen Kohlewagen gewesen sein werden, und das wahrscheinlich noch weit vor 1700.
Das Prinzip des Mitfahrens auf Güterwagen, eine logische Fortsetzung des Mitfahrens auf dem Dach und den Außensitzen von Postkutschen, hält sich noch lange, auch wenn die Wagen mittlerweile nur noch so aussehen wie Güterwagen und niedrigklassige Personenwagen sind. Derzeit haben sich, ebenfalls abgeleitet von der Postkutsche, die Abteilwagen für die höheren Klassen entwickelt - lauter kleine Kutschkästen, später aneinanderklebende kubische Zellen, jede mit einer Außentür, ohne ein Durchgangsmöglichkeit. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist das Klassensystem voll ausentwickelt: Plüsch und Gaslicht für die erste Klasse, dünnere Polster für die zweite, eng besetzte Holzbänke für die dritte; und hauptsächlich Stehraum in weiterhin sehr güterwagenähnlichen Wagen mit Längsbänken für die vierte. 
Die vierte Klasse verschwand irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg, eine weitere Klasse verschwand nach dem Zweiten, und zwar meistens in der Form, dass die bisherige erste Klasse abgeschafft und die bisherige zweite zur ersten umdeklariert wurde. Beim Zweiklassensystem ist es geblieben. Mit der allgemeinen Hinwendung zu mit einzelnen Systemsitzen (statt mit Bänken) möblierten Großräumen sind die Klassenunterschiede geschrumpft, bis zu dem Punkt, da es im Nahverkehr kaum eine Differenz mehr gibt außer der Tatsache, dass die erste Klasse teurer ist und daher oft zu Spitzenzeiten noch Platz bietet, wenn die zweite belegt ist.

Seit einiger Zeit bemüht sich die Deutsche Bahn, in ihrer ersten Klasse für mehr Auslastung zu sorgen, unter anderem durch mehr Verpflegungsservice am Platz, aber auch durch sonstige Zusatzleistungen für Halter einer 1.-Klasse-Fahrkarte. Dagegen regt sich bei einigen herber Widerstand. Aber ich bin vorher auch schon Fundamentalwiderstand, nämlich der Position begegnet, die erste Klasse sei ohnehin unnötig, sie verhindere die Beförderung von mehr Fahrgästen und rechne sich nicht, hebe mithin die Fahrpreise in beiden Klassen. Ich habe dazu keine Berechnungen, vermute aber, dass zumindest Letzteres eher nicht stimmt, da die regelmäßig überproportionale Anhebung der 1.-Klasse-Fahrpreise sonst wirtschaftlicher Unsinn wäre.
Der erste Teil des Arguments ist wohl gültig, solange man annimmt, dass ohne erste Klasse die Züge nicht kürzer wären. In der Tat gibt es Länder, wo Züge eine Einheitsklasse haben, so zum Beispiel Israel.
Auf der anderen Seite regen sich bei den neuen »Systemprodukten« des nationalen und internationalen Verkehrs Bestrebungen, wieder eine dritte Klasse analog zum Luftverkehr einzuführen. So gibt es bei der spanischen RENFE in manchen Hochgeschwindigkeitszügen drei Klassen namens »Club«, »Preferente« und »Turista«.

Bild: Kok Leng Yeo (»yeowatzup«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 20. Dezember 2007

Frohe Weihnachten!

Das Prellblog wünscht allen LeserInnen frohe Weihnachten und allzeit gute Fahrt bei den wohl auch für viele unter ihnen unvermeidlichen weihnachtlichen Eisenbahnreisen.

40: Vorne, hinten, überall

Ich weiß nicht genau, wie Kinder heutzutage einen Zug malen. Recherchen dazu im Netz waren ziemlich unergiebig. Es gibt ja die These, dass die Eisenbahn früher stärker Teil des Alltags auch und vor allem von Kindern war als heute; andererseits fahren heute mehr Züge in Deutschland als je zuvor, und durch die flächendeckenden Stundentakte, Schülertickets und so weiter werden zum Beispiel dort, wo ich herkomme, auch Strecken wie die zum Schwimmbad in den Nachbarort mit dem Zug gefahren, die man früher mit dem elterlichen Auto oder dem Rad zurückgelegt hätte. Wie dem auch sei, eine Eisenbahn auf einem Kinderbild hat schätzungsweise hinten Waggons und vorne eine Lokomotive, gerne eine schwarze und qualmende, vielleicht auch mit bloß zwei Achsen, wie sie etwa auch ein Auto hat.
Bei den allerersten Dampflokomotiven war das in der Tat die Regel, aber schon deutlich vor 1840 kamen drei- und vierachsige Maschinen auf, und dann gab es kein Halten mehr, die möglichen Kombinationen von angetriebenen und nicht angetriebenen Achsen an starren oder mehr oder minder gelenkigen Lokomotiven, die Anordnungen der Dampfmaschinen und Schubstangen (der sogenannten Triebwerke) und der Tender, mit denen man sich beschäftigte, um das Gewicht der Lokomotive möglichst vollständig auf die Treibachsen zu bringen, ohne die Gleise zu überfordern oder die Spurhaltung zu gefährden, all das füllt Bände und ist hier nicht das Thema.

Heute sind Lokomotiven in aller Regel nicht mehr dampfgetrieben und, was Achsanordnungen angeht, ziemlich langweilig geworden. Die Lok ruht auf zwei (ganz selten drei, bei Doppellokomotiven vier) Triebdrehgestellen, meist je zwei-, in Ausnahmefällen dreiachsig. Jede Achse hat bei elektrischem Antrieb einen eigenen Motor, bei hydrodynamischem Antrieb sind meistens die Achsen eines Drehgestells an einem Sammelgetriebe zusammengefasst. Viel mehr muss man eigentlich gar nicht wissen.
Die Idee des Triebdrehgestells, in dem große Teile des Antriebs verbaut sind, verleitet natürlich zu der Frage, warum man überhaupt noch eine Lokomotive braucht und nicht einfach den ganzen Zug auf Triebdrehgestelle setzt. Und in der Tat ist es im Personenverkehr nicht mehr die Regel, dass ein Zug aus einer Lokomotive und Wagen besteht. Die allermeisten Nahverkehrszüge sind Triebzüge, das heißt, gelenkige Einheiten, bei denen ein mehr oder weniger großer Anteil der (praktisch ausnahmslos zweiachsigen) Drehgestelle angetrieben ist. Die Technik, die man außerhalb der Drehgestelle braucht (Schalter, Trafo, Umrichter beziehungsweise Dieselmotoren, Getriebe, Tanks und Auspuffanlagen; in jedem Fall Kühlsysteme), hängt man unter den Fußboden, packt sie aufs Dach oder versteckt sie in unschuldigen Schränken im Fahrgastraum. Ein anderes Wort für Triebzug ist Triebwagen - wobei Haarspalter den Unterschied machen, dass Triebwagen keine Gelenke haben oder höchstens eins. Ganz einig sind die sich auch nicht.
Die Sache hat den Vorteil, dass man mehr Fahrgäste pro Meter Zuglänge (und damit Bahnsteiglänge) unterbringen kann, vor allem aber, dass sich das Gesamtgewicht optimal auf die Achsen verteilt und sich der Zug damit insgesamt leichter bauen lässt. Außerdem ist (außer bei Straßenbahnen) jeder Triebzug ein Wendezug, das heißt, er hat an jedem Ende einen Führerstand und der Fahrtrichtungswechsel erfordert kein Rangieren.

Interessanterweise hält sich ausgerechnet im Hochgeschwindigkeitsverkehr, wo das Triebzugkonzept seine Vorteile voll ausspielen kann -bei den japanischen Vorreitern waren schon 1964 alle Achsen angetrieben-, hartnäckig eine Art getarnte Form von lokbespanntem Zug, nämlich der sogenannte Triebkopfzug, bei dem ein oder zwei im Design dem Zug angeglichene und betrieblich nicht von ihm trennbare Lokomotiven in den Zugverband eingegliedert sind. Die ersten ICE und die aktuellen TGV haben einen Triebkopf an jedem Ende, die zweite Generation ICE nur einen (ist dafür aber auch einzeln fahrend nur halb so lang). Bei den frühen TGV kam zu den Triebköpfen noch je ein Triebdrehgestell im ersten Wagen (konzeptuell ähnlich den »Booster«-Dampftriebdrehgestellen mancher amerikanischer Güterzug-Dampfloks, siehe auch Abbildung). Der britische APT verdankte seine Erfolglosigkeit wohl auch der Tatsache, dass seine beiden Trieb-»Köpfe« in der Mitte des Zuges angeordnet waren und diesen in zwei Hälften teilten, von denen jede eigenes Personal brauchte.

Die Entwicklung zu Triebzügen im Personenverkehr scheint aber unaufhaltsam; die letzten ICE sind allesamt welche, die nächsten TGV werden sich vermutlich auch in die Richtung entwickeln, und im deutschen Nahverkehr halten sich eigentlich nur die Doppelstockzüge als lokbespannt, was aber auch daran liegt, dass man in Doppelstocktriebzügen die Antriebstechnik nicht mehr aufs Dach oder unter den Boden verlegen kann und daher kaum einen Platzvorteil gegenüber Zügen mit Lok hat.

In gewissen Nischen halten sich die »normalen« Züge aber hartnäckig. Der Stab über den lokbespannten InterCitys ist beispielsweise noch lange nicht gebrochen. Den Nachteil, dass der Fahrtrichtungswechsel Rangieren erfordert, hat man weitgehend aus der Welt geschafft, indem alle modernen Lokomotiven fernsteuerbar sind und es spezielle Steuerwagen gibt, mit denen man sie vom anderen Zugende her bedienen kann. Damit gibt es heute fast keine Personenzüge mehr, die keine Wendezüge sind. Auch sonst hat sich vieles getan - damit wird sich das Prellblog in zwei Wochen auseinandersetzen.

Bild: 1922 Locomotive Cyclopedia, über Matthew Brown bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Donnerstag, 13. Dezember 2007

39: Zur Länge der Nase

Vor gar nicht allzu langer Zeit beschäftigten sich im Anschluss an einen Artikel Gottfried Ilgmanns in der FAZ die deutschen Medien ausgiebig mit der Frage danach, um wieviel umweltfreundlicher denn die Eisenbahn verglichen mit dem Auto ist - wenn denn überhaupt. Ilgmanns Ergebnisse sind meiner Meinung nach einigermaßen fragwürdig, denn er beschränkt sich darauf, für beide Verkehrsträger möglichst präzise einen Leitwert abzuschätzen, nämlich den Energieverbrauch pro Fahrgast und Entfernungseinheit unter Berücksichtigung der Auslastung, der Nebenenergieverbräuche und etwaiger Umwege. Die Methodik ist dabei zwar schon in Details angreifbar, denn Zu- und Abbringwege von und zur Eisenbahn sind eingerechnet, Parkplatzsuchverkehr beim Auto anscheinend nicht, obwohl dieser einen ganz erheblichen Anteil am Stadtverkehr ausmacht. Aber der Vergleich trifft ohnehin nicht den Kern.

Ich möchte hier einmal kurz skizzieren, welche Vorteile die Eisenbahn umwelt- und naturschutztechnisch gegenüber der Straße hat. Das ist einmal der zumindest eine Ecke niedrigere Primärenergieverbrauch: Selbst Ilgmann muss einen, wenn auch kleinen, Abstand einräumen. Zum zweiten wird aber die Traktionsenergie für die Bahn nicht, wie bei der Straße, quasi ausschließlich mit relativ kleinen Otto- und Dieselmotoren umgesetzt, sondern zu einem erheblichen Teil durch Kraftwerke, die entweder emissionsfrei sind oder auf Grund ihrer Blockgröße effizienter und schadstoffärmer arbeiten. Selbst bei gleichem spezifischem Traktionsenergieverbrauch hätte die Eisenbahn also immer noch einen Vorteil.
Es ist auch davon auszugehen, dass der Schienenverkehr mit erheblich geringeren einmaligen Investitionen Energie- und Emissionsersparnisse realisieren kann; die Bahnstromversorgung in Deutschland weitgehend auf Ökostrom umzustellen wäre mit genügend politischem Willen und Subventionierungszusagen für die laufenden Kosten wahrscheinlich binnen drei bis fünf Jahren und für unter zehn Milliarden Euro machbar; die Pkw-Flotte vergleichsweise ressourcenschonend zu betreiben ist ein Projekt für Jahrzehnte und von den Kosten irgendwo im mittleren dreistelligen Milliardenbereich anzusiedeln. Auch im nicht elektrifizierten Netz gilt, dass Bahndiesel an einigen hundert bis tausend Fahrzeugen auszutauschen oder umzurüsten einfacher ist, als sich Millionen von Pkw und Lkw vorzunehmen.

Noch wichtiger ist aber letzlich das konkrete Szenario, das sich ergäbe, stiegen schlagartig Hunderttausende vom Auto in die Bahn um - also die Betrachtung nicht der bestehenden Energiekosten, sondern der Energiegrenzkosten bei steigenden Fahrgastzahlen. Der Löwenanteil der Umgestiegenen würde wohl einfach freie Plätze in den bereits fahrenden Zügen besetzen. Eisenbahnfahrpläne werden in Deutschland (wie auch sonst vielerorts) mittlerweile generell angebotsorientiert gestaltet, das heißt, man fährt über einen so großen Zeitraum der Woche wie irgend möglich Züge in einem stabilen Basistakt, am besten stündlich oder noch öfter. Das bedeutet meistens große Auslastungsreserven, und dass kurzfristig jeder neu gewonnene Bahnfahrgast die Positionierung der Eisenbahn in der Umweltbilanz verbessert.
Mittelfristig müssten dann natürlich irgendwann längere Züge fahren. Bei einem aerodynamisch halbwegs brauchbaren Zug sinkt durch eine Verlängerung der Energieverbrauch pro Sitzplatz, weil der Luftwiderstand der Stirnfläche weiterhin nur einmal anfällt. Es müssten irgendwann auch mehr Züge fahren; natürlich verbrauchen die alle extra, steigern aber, wenn fahrplantechnisch schlau eingelegt, die Attraktivität der Gesamtverbindung.
Langfristig spielt die Eisenbahn dann ihren meiner Ansicht nach am stärksten unterbewerteten Vorteil aus: Die relative Schlankheit ihrer Infrastruktur, die jeder schon bewundern konnte, der im Lahntal oder am Frankfurter Flughafen Autobahnbrücken mit den Brücken der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Köln vergleichen durfte. Die Kapazität einer Eisenbahnstrecke lässt sich mit genügend Geld ins Märchenhafte steigern, ohne dass die Trasse allzusehr in die Breite geht: Vier Gleise reichen normalerweise für jede beliebige Verkehrsbelastung und sind zusammen schmaler als eine reguläre vierspurige Autobahn. Außerdem induziert gesteigerter Bahnverkehr keinen Bedarf für zusätzliche Parkplätze; Züge werden betriebswirtschaftlich optimiert so eingesetzt, dass sie möglichst den ganzen Tag Kilometer abspulen, und wenn sie das mal nicht tun, »parken« sie in Werkstätten oder Abstellanlagen, die nicht notwendigerweise nah am Kunden sein müssen. Straßen haben dagegen das Problem, dass sie bei zunehmendem Verkehr immer mehr Spuren brauchen, und die Fläche der Kreuzungsbauwerke mindestens mit dem Quadrat der Spurzahl anwächst.

Natürlich kann auch auf der Straße umweltfreundlich Verkehr abgewickelt werden. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es aber schlicht so, dass eine etwaige Verbesserung der Bilanz der Straße stets riesige Investitionen bedeutet, während die Eisenbahn ihre Position mit jeder Person, die umsteigt, ausbaut.
Und davon, dass Züge vierzig Jahre lang halten und dass man Schienen im Gegensatz zu Straßenbelag einschmelzen und zu Suppendosen oder Designermöbeln weiterverarbeiten kann, habe ich noch gar nicht gesprochen.

Bild: Sebastian Terfloth bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Donnerstag, 6. Dezember 2007

38: Projekt Eiertanz 5: Was nun?

Dies ist die vorläufig letzte Folge von Projekt Eiertanz, aus einfachem Grunde: So schnell wird es den DB-Börsengang in seiner bisher geplanten Form wohl nicht geben. Der SPD-Parteitag und die LänderverkehrsministerInnen (eine Frau ist darunter) haben die gewünschte 49prozentige Privatisierung des integrierten Konzerns samt Netz, bei nominalem Verbleib des Eigentums am Netz beim Bund, effektiv unmöglich gemacht. Nur noch Leute, deren Karriere daran hängt, gehen davon aus, dass diese Idee noch eine Chance hat.

Was passiert also weiter? Weg des geringsten Widerstandes für alle Beteiligten wäre wahrscheinlich das Beibehalten des Status quo: Eine DB bliebe als integrierter Konzern erhalten, der weiter im Staatsbesitz und mit der Rückendeckung von Politik und Gewerkschaften kräftig im internationalen Logistikgeschäft expandiert. Das Ganze wegen dieser Staatsdeckung mit einem erheblichen Bonitätsvorteil gegenüber privaten Unternehmen der Branche, da die Besitzerin der DB, die Bundesrepublik, ein quasi perfektes Kreditrating hat. Das Netzwerk Privatbahnen hat deswegen Beschwerde bei der EU eingereicht. Die EU sowie die deutschen Gerichte -weniger die überforderte Bundesnetzagentur- sind es auch, die durch ihre Drohkulisse und regelmäßige Entscheidungen gegen die DB wenigstens annähernd diskriminierungsfreien Zugang zum DB-Netz für Dritte sicherstellen. Selbst unter den ungünstigen Bedingungen, die somit herrschen, nehmen nichtbundeseigene Eisenbahnen der DB immer mehr Marktanteile ab. Warum, ist auch relativ klar ersichtlich, wenn man sich einmal anschaut, dass beispielsweise die Mittelweserbahn 135 Personen beschäftigt, von denen 120 Lokführer sind, also 89 %; die DB-Gütertochter Railion bringt es selbst bei optimistischster Betrachtung (Einrechnen von Rangierern) auf deutlich unter 50 % Fahrpersonal. Neben dem Vorteil durch flache Hierarchien müssen die »Privatbahnen« normalerweise auch keine alten und heterogenen Fahrzeugflotten mitschleppen und können unbelastet von Beschäftigungspakten, etablierter Infrastruktur und hundertjährigen Traditionen frei entscheiden, was intern erledigt und was extern vergeben wird (Fahrzeuginstandhaltung beispielsweise). Im Personennahverkehr führt alleine der Imagevorteil, nicht die DB zu sein, ceteris paribus zu spontanen Fahrgastzuwächsen.
Also einfach weiterwurschteln mit der DB als staatskapitalistischem Marktführer, dem die Konkurrenz langsam, aber sicher, mit Zähnen und Klauen Anteile abkämpft? Warum eigentlich nicht?
Unter anderem deswegen, weil das Bessere der Feind des Guten ist; weil der deutsche Staat heuchlerisch wäre, ein Eigenunternehmen weltweit Firmen aufkaufen zu lassen und auf der anderen Seite gegen chinesische und russische Staatsfonds zu agitieren; und weil über dem gegenwärtigen Modell stets das Damoklesschwert der abermaligen Verstaatsbahnung hängt, wie sie eine unheilige Koalition aus »Eisenbahnfreunden«, Altlinken und verhältnismäßig beratungsresistenten »alternativen Verkehrspolitikern« regelmäßig fordert.
Der kompletten Abwicklung und Einschmelzung der wie ein Ameisenhaufen wuselnden deutschen Eisenbahnbranche mit ihren vielen hundert Mittelständlern, teils erstaunlich erfolgreichen ehemaligen Museumsbahnen, ihren unübersichtlichen kommunalen Beteiligungen und mittlerweile auch ihrem ordentlichem Kapitalzustrom ist glücklicherweise wohl schon rein der EU wegen nicht zu machen. Aber man mag sich nicht ausmalen, was die Leute, die entgegen aller Fakten meinen, die effizienteste Form, Eisenbahnverkehr zu organisieren, sei die eines monolithischen Staatsmonopols, die gerne auch mit dem Gedanken von Arbeitsplatzschaffung durch Deautomatisierung spielen, und die Eisenbahn oft mehr als Freilichtmuseum und Gemütlichkeitsort denn als essenziellen Teil der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung begreifen, mit dem Bahnmarkt machen könnten, wenn sie die DB in die Finger bekämen.
Paradoxerweise ist die von den selbsternannten »Bürgerbahnern« geforderte Demokratisierung von Eisenbahn eher bei einer weiteren Entmachtung und Zerschlagung der DB zu erwarten als bei ihrer Stabilisierung beziehungsweise Wiedereinsetzung als dominierender Akteur. Kommunales Engagement zum Beispiel durch städtische oder Kreisgüterbahnen, die im liberalisierten Markt plötzlich Schlagkraft entwickeln, oder durch hocheffiziente Straßenbahnbetriebe, die als Regionalstadtbahn auf dem Bahnnetz zu operieren beginnen, würde durch eine Stärkung der DB eher leiden. Auch der Ländereinfluss litte, wenn man freihändige Verkehrsverträge mit der DB (statt Ausschreibungen) zur Regel machte.
Wer jetzt wie und wann womit an die Börse geht, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Auch aus dem Status quo lässt sich viel machen. Nur muss irgendwann einmal der Aberglaube aufhören, dass es bloß der DB gut gehen muss, damit es der Eisenbahn gut geht. Das Scheitern des bisherigen Börsengangmodells könnte vielleicht das eine oder andere Umdenken in diese Richtung ausgelöst haben.

Bild: Henry Chen bei Flickr (Details und Lizenz)