Donnerstag, 27. Dezember 2007

41: Schichtstufen

Da es entgegen der populären Auffassung nie einen definitiven Startschuss für das System Eisenbahn, wie wir es heute kennen, gegeben hat, sondern es sich buchstäblich über Jahrhunderte entwickelt hat, lässt sich schwer sagen, wann zum ersten Male Fahrgäste befördert wurden. (Kleine Anmerkung zum eisenbahnerischen Sprachgebrauch: Man spricht von Fahrgästen, denn Passagiere gibt es nur in der See- und Luftfahrt. Außerdem werden Fahrgäste immer befördert, niemals transportiert - das werden nur Güter.)

Ziemlich sicher ist jedoch, dass die ersten Bahnreisenden Mitfahrer auf pferdegezogenen Kohlewagen gewesen sein werden, und das wahrscheinlich noch weit vor 1700.
Das Prinzip des Mitfahrens auf Güterwagen, eine logische Fortsetzung des Mitfahrens auf dem Dach und den Außensitzen von Postkutschen, hält sich noch lange, auch wenn die Wagen mittlerweile nur noch so aussehen wie Güterwagen und niedrigklassige Personenwagen sind. Derzeit haben sich, ebenfalls abgeleitet von der Postkutsche, die Abteilwagen für die höheren Klassen entwickelt - lauter kleine Kutschkästen, später aneinanderklebende kubische Zellen, jede mit einer Außentür, ohne ein Durchgangsmöglichkeit. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist das Klassensystem voll ausentwickelt: Plüsch und Gaslicht für die erste Klasse, dünnere Polster für die zweite, eng besetzte Holzbänke für die dritte; und hauptsächlich Stehraum in weiterhin sehr güterwagenähnlichen Wagen mit Längsbänken für die vierte. 
Die vierte Klasse verschwand irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg, eine weitere Klasse verschwand nach dem Zweiten, und zwar meistens in der Form, dass die bisherige erste Klasse abgeschafft und die bisherige zweite zur ersten umdeklariert wurde. Beim Zweiklassensystem ist es geblieben. Mit der allgemeinen Hinwendung zu mit einzelnen Systemsitzen (statt mit Bänken) möblierten Großräumen sind die Klassenunterschiede geschrumpft, bis zu dem Punkt, da es im Nahverkehr kaum eine Differenz mehr gibt außer der Tatsache, dass die erste Klasse teurer ist und daher oft zu Spitzenzeiten noch Platz bietet, wenn die zweite belegt ist.

Seit einiger Zeit bemüht sich die Deutsche Bahn, in ihrer ersten Klasse für mehr Auslastung zu sorgen, unter anderem durch mehr Verpflegungsservice am Platz, aber auch durch sonstige Zusatzleistungen für Halter einer 1.-Klasse-Fahrkarte. Dagegen regt sich bei einigen herber Widerstand. Aber ich bin vorher auch schon Fundamentalwiderstand, nämlich der Position begegnet, die erste Klasse sei ohnehin unnötig, sie verhindere die Beförderung von mehr Fahrgästen und rechne sich nicht, hebe mithin die Fahrpreise in beiden Klassen. Ich habe dazu keine Berechnungen, vermute aber, dass zumindest Letzteres eher nicht stimmt, da die regelmäßig überproportionale Anhebung der 1.-Klasse-Fahrpreise sonst wirtschaftlicher Unsinn wäre.
Der erste Teil des Arguments ist wohl gültig, solange man annimmt, dass ohne erste Klasse die Züge nicht kürzer wären. In der Tat gibt es Länder, wo Züge eine Einheitsklasse haben, so zum Beispiel Israel.
Auf der anderen Seite regen sich bei den neuen »Systemprodukten« des nationalen und internationalen Verkehrs Bestrebungen, wieder eine dritte Klasse analog zum Luftverkehr einzuführen. So gibt es bei der spanischen RENFE in manchen Hochgeschwindigkeitszügen drei Klassen namens »Club«, »Preferente« und »Turista«.

Bild: Kok Leng Yeo (»yeowatzup«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 20. Dezember 2007

Frohe Weihnachten!

Das Prellblog wünscht allen LeserInnen frohe Weihnachten und allzeit gute Fahrt bei den wohl auch für viele unter ihnen unvermeidlichen weihnachtlichen Eisenbahnreisen.

40: Vorne, hinten, überall

Ich weiß nicht genau, wie Kinder heutzutage einen Zug malen. Recherchen dazu im Netz waren ziemlich unergiebig. Es gibt ja die These, dass die Eisenbahn früher stärker Teil des Alltags auch und vor allem von Kindern war als heute; andererseits fahren heute mehr Züge in Deutschland als je zuvor, und durch die flächendeckenden Stundentakte, Schülertickets und so weiter werden zum Beispiel dort, wo ich herkomme, auch Strecken wie die zum Schwimmbad in den Nachbarort mit dem Zug gefahren, die man früher mit dem elterlichen Auto oder dem Rad zurückgelegt hätte. Wie dem auch sei, eine Eisenbahn auf einem Kinderbild hat schätzungsweise hinten Waggons und vorne eine Lokomotive, gerne eine schwarze und qualmende, vielleicht auch mit bloß zwei Achsen, wie sie etwa auch ein Auto hat.
Bei den allerersten Dampflokomotiven war das in der Tat die Regel, aber schon deutlich vor 1840 kamen drei- und vierachsige Maschinen auf, und dann gab es kein Halten mehr, die möglichen Kombinationen von angetriebenen und nicht angetriebenen Achsen an starren oder mehr oder minder gelenkigen Lokomotiven, die Anordnungen der Dampfmaschinen und Schubstangen (der sogenannten Triebwerke) und der Tender, mit denen man sich beschäftigte, um das Gewicht der Lokomotive möglichst vollständig auf die Treibachsen zu bringen, ohne die Gleise zu überfordern oder die Spurhaltung zu gefährden, all das füllt Bände und ist hier nicht das Thema.

Heute sind Lokomotiven in aller Regel nicht mehr dampfgetrieben und, was Achsanordnungen angeht, ziemlich langweilig geworden. Die Lok ruht auf zwei (ganz selten drei, bei Doppellokomotiven vier) Triebdrehgestellen, meist je zwei-, in Ausnahmefällen dreiachsig. Jede Achse hat bei elektrischem Antrieb einen eigenen Motor, bei hydrodynamischem Antrieb sind meistens die Achsen eines Drehgestells an einem Sammelgetriebe zusammengefasst. Viel mehr muss man eigentlich gar nicht wissen.
Die Idee des Triebdrehgestells, in dem große Teile des Antriebs verbaut sind, verleitet natürlich zu der Frage, warum man überhaupt noch eine Lokomotive braucht und nicht einfach den ganzen Zug auf Triebdrehgestelle setzt. Und in der Tat ist es im Personenverkehr nicht mehr die Regel, dass ein Zug aus einer Lokomotive und Wagen besteht. Die allermeisten Nahverkehrszüge sind Triebzüge, das heißt, gelenkige Einheiten, bei denen ein mehr oder weniger großer Anteil der (praktisch ausnahmslos zweiachsigen) Drehgestelle angetrieben ist. Die Technik, die man außerhalb der Drehgestelle braucht (Schalter, Trafo, Umrichter beziehungsweise Dieselmotoren, Getriebe, Tanks und Auspuffanlagen; in jedem Fall Kühlsysteme), hängt man unter den Fußboden, packt sie aufs Dach oder versteckt sie in unschuldigen Schränken im Fahrgastraum. Ein anderes Wort für Triebzug ist Triebwagen - wobei Haarspalter den Unterschied machen, dass Triebwagen keine Gelenke haben oder höchstens eins. Ganz einig sind die sich auch nicht.
Die Sache hat den Vorteil, dass man mehr Fahrgäste pro Meter Zuglänge (und damit Bahnsteiglänge) unterbringen kann, vor allem aber, dass sich das Gesamtgewicht optimal auf die Achsen verteilt und sich der Zug damit insgesamt leichter bauen lässt. Außerdem ist (außer bei Straßenbahnen) jeder Triebzug ein Wendezug, das heißt, er hat an jedem Ende einen Führerstand und der Fahrtrichtungswechsel erfordert kein Rangieren.

Interessanterweise hält sich ausgerechnet im Hochgeschwindigkeitsverkehr, wo das Triebzugkonzept seine Vorteile voll ausspielen kann -bei den japanischen Vorreitern waren schon 1964 alle Achsen angetrieben-, hartnäckig eine Art getarnte Form von lokbespanntem Zug, nämlich der sogenannte Triebkopfzug, bei dem ein oder zwei im Design dem Zug angeglichene und betrieblich nicht von ihm trennbare Lokomotiven in den Zugverband eingegliedert sind. Die ersten ICE und die aktuellen TGV haben einen Triebkopf an jedem Ende, die zweite Generation ICE nur einen (ist dafür aber auch einzeln fahrend nur halb so lang). Bei den frühen TGV kam zu den Triebköpfen noch je ein Triebdrehgestell im ersten Wagen (konzeptuell ähnlich den »Booster«-Dampftriebdrehgestellen mancher amerikanischer Güterzug-Dampfloks, siehe auch Abbildung). Der britische APT verdankte seine Erfolglosigkeit wohl auch der Tatsache, dass seine beiden Trieb-»Köpfe« in der Mitte des Zuges angeordnet waren und diesen in zwei Hälften teilten, von denen jede eigenes Personal brauchte.

Die Entwicklung zu Triebzügen im Personenverkehr scheint aber unaufhaltsam; die letzten ICE sind allesamt welche, die nächsten TGV werden sich vermutlich auch in die Richtung entwickeln, und im deutschen Nahverkehr halten sich eigentlich nur die Doppelstockzüge als lokbespannt, was aber auch daran liegt, dass man in Doppelstocktriebzügen die Antriebstechnik nicht mehr aufs Dach oder unter den Boden verlegen kann und daher kaum einen Platzvorteil gegenüber Zügen mit Lok hat.

In gewissen Nischen halten sich die »normalen« Züge aber hartnäckig. Der Stab über den lokbespannten InterCitys ist beispielsweise noch lange nicht gebrochen. Den Nachteil, dass der Fahrtrichtungswechsel Rangieren erfordert, hat man weitgehend aus der Welt geschafft, indem alle modernen Lokomotiven fernsteuerbar sind und es spezielle Steuerwagen gibt, mit denen man sie vom anderen Zugende her bedienen kann. Damit gibt es heute fast keine Personenzüge mehr, die keine Wendezüge sind. Auch sonst hat sich vieles getan - damit wird sich das Prellblog in zwei Wochen auseinandersetzen.

Bild: 1922 Locomotive Cyclopedia, über Matthew Brown bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Donnerstag, 13. Dezember 2007

39: Zur Länge der Nase

Vor gar nicht allzu langer Zeit beschäftigten sich im Anschluss an einen Artikel Gottfried Ilgmanns in der FAZ die deutschen Medien ausgiebig mit der Frage danach, um wieviel umweltfreundlicher denn die Eisenbahn verglichen mit dem Auto ist - wenn denn überhaupt. Ilgmanns Ergebnisse sind meiner Meinung nach einigermaßen fragwürdig, denn er beschränkt sich darauf, für beide Verkehrsträger möglichst präzise einen Leitwert abzuschätzen, nämlich den Energieverbrauch pro Fahrgast und Entfernungseinheit unter Berücksichtigung der Auslastung, der Nebenenergieverbräuche und etwaiger Umwege. Die Methodik ist dabei zwar schon in Details angreifbar, denn Zu- und Abbringwege von und zur Eisenbahn sind eingerechnet, Parkplatzsuchverkehr beim Auto anscheinend nicht, obwohl dieser einen ganz erheblichen Anteil am Stadtverkehr ausmacht. Aber der Vergleich trifft ohnehin nicht den Kern.

Ich möchte hier einmal kurz skizzieren, welche Vorteile die Eisenbahn umwelt- und naturschutztechnisch gegenüber der Straße hat. Das ist einmal der zumindest eine Ecke niedrigere Primärenergieverbrauch: Selbst Ilgmann muss einen, wenn auch kleinen, Abstand einräumen. Zum zweiten wird aber die Traktionsenergie für die Bahn nicht, wie bei der Straße, quasi ausschließlich mit relativ kleinen Otto- und Dieselmotoren umgesetzt, sondern zu einem erheblichen Teil durch Kraftwerke, die entweder emissionsfrei sind oder auf Grund ihrer Blockgröße effizienter und schadstoffärmer arbeiten. Selbst bei gleichem spezifischem Traktionsenergieverbrauch hätte die Eisenbahn also immer noch einen Vorteil.
Es ist auch davon auszugehen, dass der Schienenverkehr mit erheblich geringeren einmaligen Investitionen Energie- und Emissionsersparnisse realisieren kann; die Bahnstromversorgung in Deutschland weitgehend auf Ökostrom umzustellen wäre mit genügend politischem Willen und Subventionierungszusagen für die laufenden Kosten wahrscheinlich binnen drei bis fünf Jahren und für unter zehn Milliarden Euro machbar; die Pkw-Flotte vergleichsweise ressourcenschonend zu betreiben ist ein Projekt für Jahrzehnte und von den Kosten irgendwo im mittleren dreistelligen Milliardenbereich anzusiedeln. Auch im nicht elektrifizierten Netz gilt, dass Bahndiesel an einigen hundert bis tausend Fahrzeugen auszutauschen oder umzurüsten einfacher ist, als sich Millionen von Pkw und Lkw vorzunehmen.

Noch wichtiger ist aber letzlich das konkrete Szenario, das sich ergäbe, stiegen schlagartig Hunderttausende vom Auto in die Bahn um - also die Betrachtung nicht der bestehenden Energiekosten, sondern der Energiegrenzkosten bei steigenden Fahrgastzahlen. Der Löwenanteil der Umgestiegenen würde wohl einfach freie Plätze in den bereits fahrenden Zügen besetzen. Eisenbahnfahrpläne werden in Deutschland (wie auch sonst vielerorts) mittlerweile generell angebotsorientiert gestaltet, das heißt, man fährt über einen so großen Zeitraum der Woche wie irgend möglich Züge in einem stabilen Basistakt, am besten stündlich oder noch öfter. Das bedeutet meistens große Auslastungsreserven, und dass kurzfristig jeder neu gewonnene Bahnfahrgast die Positionierung der Eisenbahn in der Umweltbilanz verbessert.
Mittelfristig müssten dann natürlich irgendwann längere Züge fahren. Bei einem aerodynamisch halbwegs brauchbaren Zug sinkt durch eine Verlängerung der Energieverbrauch pro Sitzplatz, weil der Luftwiderstand der Stirnfläche weiterhin nur einmal anfällt. Es müssten irgendwann auch mehr Züge fahren; natürlich verbrauchen die alle extra, steigern aber, wenn fahrplantechnisch schlau eingelegt, die Attraktivität der Gesamtverbindung.
Langfristig spielt die Eisenbahn dann ihren meiner Ansicht nach am stärksten unterbewerteten Vorteil aus: Die relative Schlankheit ihrer Infrastruktur, die jeder schon bewundern konnte, der im Lahntal oder am Frankfurter Flughafen Autobahnbrücken mit den Brücken der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Köln vergleichen durfte. Die Kapazität einer Eisenbahnstrecke lässt sich mit genügend Geld ins Märchenhafte steigern, ohne dass die Trasse allzusehr in die Breite geht: Vier Gleise reichen normalerweise für jede beliebige Verkehrsbelastung und sind zusammen schmaler als eine reguläre vierspurige Autobahn. Außerdem induziert gesteigerter Bahnverkehr keinen Bedarf für zusätzliche Parkplätze; Züge werden betriebswirtschaftlich optimiert so eingesetzt, dass sie möglichst den ganzen Tag Kilometer abspulen, und wenn sie das mal nicht tun, »parken« sie in Werkstätten oder Abstellanlagen, die nicht notwendigerweise nah am Kunden sein müssen. Straßen haben dagegen das Problem, dass sie bei zunehmendem Verkehr immer mehr Spuren brauchen, und die Fläche der Kreuzungsbauwerke mindestens mit dem Quadrat der Spurzahl anwächst.

Natürlich kann auch auf der Straße umweltfreundlich Verkehr abgewickelt werden. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es aber schlicht so, dass eine etwaige Verbesserung der Bilanz der Straße stets riesige Investitionen bedeutet, während die Eisenbahn ihre Position mit jeder Person, die umsteigt, ausbaut.
Und davon, dass Züge vierzig Jahre lang halten und dass man Schienen im Gegensatz zu Straßenbelag einschmelzen und zu Suppendosen oder Designermöbeln weiterverarbeiten kann, habe ich noch gar nicht gesprochen.

Bild: Sebastian Terfloth bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Donnerstag, 6. Dezember 2007

38: Projekt Eiertanz 5: Was nun?

Dies ist die vorläufig letzte Folge von Projekt Eiertanz, aus einfachem Grunde: So schnell wird es den DB-Börsengang in seiner bisher geplanten Form wohl nicht geben. Der SPD-Parteitag und die LänderverkehrsministerInnen (eine Frau ist darunter) haben die gewünschte 49prozentige Privatisierung des integrierten Konzerns samt Netz, bei nominalem Verbleib des Eigentums am Netz beim Bund, effektiv unmöglich gemacht. Nur noch Leute, deren Karriere daran hängt, gehen davon aus, dass diese Idee noch eine Chance hat.

Was passiert also weiter? Weg des geringsten Widerstandes für alle Beteiligten wäre wahrscheinlich das Beibehalten des Status quo: Eine DB bliebe als integrierter Konzern erhalten, der weiter im Staatsbesitz und mit der Rückendeckung von Politik und Gewerkschaften kräftig im internationalen Logistikgeschäft expandiert. Das Ganze wegen dieser Staatsdeckung mit einem erheblichen Bonitätsvorteil gegenüber privaten Unternehmen der Branche, da die Besitzerin der DB, die Bundesrepublik, ein quasi perfektes Kreditrating hat. Das Netzwerk Privatbahnen hat deswegen Beschwerde bei der EU eingereicht. Die EU sowie die deutschen Gerichte -weniger die überforderte Bundesnetzagentur- sind es auch, die durch ihre Drohkulisse und regelmäßige Entscheidungen gegen die DB wenigstens annähernd diskriminierungsfreien Zugang zum DB-Netz für Dritte sicherstellen. Selbst unter den ungünstigen Bedingungen, die somit herrschen, nehmen nichtbundeseigene Eisenbahnen der DB immer mehr Marktanteile ab. Warum, ist auch relativ klar ersichtlich, wenn man sich einmal anschaut, dass beispielsweise die Mittelweserbahn 135 Personen beschäftigt, von denen 120 Lokführer sind, also 89 %; die DB-Gütertochter Railion bringt es selbst bei optimistischster Betrachtung (Einrechnen von Rangierern) auf deutlich unter 50 % Fahrpersonal. Neben dem Vorteil durch flache Hierarchien müssen die »Privatbahnen« normalerweise auch keine alten und heterogenen Fahrzeugflotten mitschleppen und können unbelastet von Beschäftigungspakten, etablierter Infrastruktur und hundertjährigen Traditionen frei entscheiden, was intern erledigt und was extern vergeben wird (Fahrzeuginstandhaltung beispielsweise). Im Personennahverkehr führt alleine der Imagevorteil, nicht die DB zu sein, ceteris paribus zu spontanen Fahrgastzuwächsen.
Also einfach weiterwurschteln mit der DB als staatskapitalistischem Marktführer, dem die Konkurrenz langsam, aber sicher, mit Zähnen und Klauen Anteile abkämpft? Warum eigentlich nicht?
Unter anderem deswegen, weil das Bessere der Feind des Guten ist; weil der deutsche Staat heuchlerisch wäre, ein Eigenunternehmen weltweit Firmen aufkaufen zu lassen und auf der anderen Seite gegen chinesische und russische Staatsfonds zu agitieren; und weil über dem gegenwärtigen Modell stets das Damoklesschwert der abermaligen Verstaatsbahnung hängt, wie sie eine unheilige Koalition aus »Eisenbahnfreunden«, Altlinken und verhältnismäßig beratungsresistenten »alternativen Verkehrspolitikern« regelmäßig fordert.
Der kompletten Abwicklung und Einschmelzung der wie ein Ameisenhaufen wuselnden deutschen Eisenbahnbranche mit ihren vielen hundert Mittelständlern, teils erstaunlich erfolgreichen ehemaligen Museumsbahnen, ihren unübersichtlichen kommunalen Beteiligungen und mittlerweile auch ihrem ordentlichem Kapitalzustrom ist glücklicherweise wohl schon rein der EU wegen nicht zu machen. Aber man mag sich nicht ausmalen, was die Leute, die entgegen aller Fakten meinen, die effizienteste Form, Eisenbahnverkehr zu organisieren, sei die eines monolithischen Staatsmonopols, die gerne auch mit dem Gedanken von Arbeitsplatzschaffung durch Deautomatisierung spielen, und die Eisenbahn oft mehr als Freilichtmuseum und Gemütlichkeitsort denn als essenziellen Teil der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung begreifen, mit dem Bahnmarkt machen könnten, wenn sie die DB in die Finger bekämen.
Paradoxerweise ist die von den selbsternannten »Bürgerbahnern« geforderte Demokratisierung von Eisenbahn eher bei einer weiteren Entmachtung und Zerschlagung der DB zu erwarten als bei ihrer Stabilisierung beziehungsweise Wiedereinsetzung als dominierender Akteur. Kommunales Engagement zum Beispiel durch städtische oder Kreisgüterbahnen, die im liberalisierten Markt plötzlich Schlagkraft entwickeln, oder durch hocheffiziente Straßenbahnbetriebe, die als Regionalstadtbahn auf dem Bahnnetz zu operieren beginnen, würde durch eine Stärkung der DB eher leiden. Auch der Ländereinfluss litte, wenn man freihändige Verkehrsverträge mit der DB (statt Ausschreibungen) zur Regel machte.
Wer jetzt wie und wann womit an die Börse geht, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Auch aus dem Status quo lässt sich viel machen. Nur muss irgendwann einmal der Aberglaube aufhören, dass es bloß der DB gut gehen muss, damit es der Eisenbahn gut geht. Das Scheitern des bisherigen Börsengangmodells könnte vielleicht das eine oder andere Umdenken in diese Richtung ausgelöst haben.

Bild: Henry Chen bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 29. November 2007

37: Jenseits des Prellblogs 2

Heute möchte ich die im Prellblog 9 gegebenen Literaturhinweise etwas ergänzen.

Zunächst sind da zwei englischsprachige Nachrichtenseiten zu erwähnen: Einmal die Seite der Railway Gazette, die neben meist tagesfrischen Neuigkeiten aus der Bahnwelt auch einen ziemlich interessanten Überblick über laufende Ausschreibungsverfahren bietet. Dabei handelt es sich übrigens um die Internet-Inkarnation einer der ältesten (und deswegen logischerweise britischen) Eisenbahnfachzeitschriften der Welt, die in der einen oder anderen Form seit 1835 erscheint.
Einen amerikanischen Blick auf das Geschehen liefert ProgressiveRailroading.com, ebenfalls die Webseite eines Print-Fachverlages. Hier gibt es zwei Nachrichtenkategorien, die bezeichnenderweise »Freight News« und »Transit News« heißen, weil in Nordamerika Eisenbahn entweder Güterverkehr oder Ballungsraumverkehr heißt. Interessanterweise gibt es gar nicht so wenige Meldungen aus dem Bereich des Fernverkehrs, der derzeit ja auch in den USA und Kanada so etwas wie einen milden Aufschwung erlebt. Die Blogs und Podcasts haben Eisenbahner und Manager bei privaten Güterbahnen als Hauptzielgruppe und sind daher nicht unbedingt jedermanns Sache.

Im ersten »Jenseits des Prellblogs« hatte ich mich darüber beschwert, es gebe keine seriöse Publikumszeitschrift für den Fernverkehr ohne großen Modellbahn- und Nostalgieanteil. Es gibt offenbar doch eine; entweder hatte sie damals die Bahnhofsbuchhandlungen meines Vertrauens noch nicht erreicht oder ich habe sie schlicht übersehen. Es handelt sich um die Eisenbahn-Revue International, die deutschsprachige internationale Ausgabe einer Schweizer Publikation, leider (noch?) ohne eigene Webseite. Mit 10,20 Euro ist sie allerdings recht teuer.
Wer sich nicht daran stört, dass ein junges Blatt noch verhältnismäßig groß drucken muss, um alle Seiten voll zu bekommen, und auch nicht daran, dass doch recht klar ist, welche lobbyistische Ausrichtung es hat, kann auch das nagelneue Privatbahn-Magazin lesen. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Nicht-DB-Eisenbahnen und ist schon für fünf Euro zu haben.
Zum Schluss noch zwei Buchtipps: Ein Standardwerk, das ich selber leider noch nicht besitze, ist der »Eisenbahnatlas Deutschland« aus dem Hause Schweers+Wall, Köln. Auch wenn es akribisch stillgelegte Kleinbahnen aller Art verzeichnet, steht es doch mit beiden Beinen fest in der Gegenwart und führt zahlreiche Informationen (wie zum Beispiel die DB-Netz-Streckennummern), die zeigen, dass es nicht bloß ein Coffee-Table-Buch für Bahnliebhaber, sondern auch eine Referenz für Praktiker der Branche ist. Was will man mehr.
Zur Weckung von bahnbezogenem Optimismus dienenen kann »Rückkehr zur Schiene« von Wolfgang Fiegenbaum und Wolfgang Klee, erschienen 2002 bei transpress, Stuttgart. Die beiden Autoren eines melancholischen, inzwischen sechsbändigen Übersichtswerks über stillgelegte Strecken in Deutschland namens »Abschied von der Schiene« haben sich mit diesem Buch einmal am Gegenteil versucht und zusammengefasst, was zwischen 1980 und 2001 an Strecken neugebaut und reaktiviert wurde. Ich würde mir wünschen, dass auch hierzu irgendwann einmal fünf Folgebände erschienen sein werden.

Bild: Gregor »Chilling Soul« bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 22. November 2007

36: Der große Graben

Gräben können verbinden oder trennen. Wenn sie verbinden, dann, was an den Enden des Grabens ist, wenn sie trennen, dann das, was links und rechts davon liegt. Zumindest meistens ist das so. Übermorgen wird allerdings ein Graben eingeweiht, der auch seine linke und rechte Seite enger zusammenbringt.
In vier Jahren Bauzeit wurde die durch Neu-Ulm verlaufende Fernstrecke viergleisig gemacht -wie übrigens auch die Ulmer Donaubrücke- und in einen teilweise überdeckelten Betontrog verlegt. Der alte, 16gleisige Bahnhof ist Geschichte, seine Funktion im Containerverkehr hat ein neues Umschlagterminal in Ulm-Dornstadt übernommen. Die Schrumpfung der Bahnflächen und die dauerhafte Verbindung durch den Deckel und neue Überführungen haben die Zerschneidung der Stadt durch die Gleise stark reduziert und große Flächen für den Städtebau freigemacht. Die Durchfahrtsgeschwindigkeit ist erheblich gesteigert, Regional- und Fernverkehr werden getrennt abgewickelt. Nebenbei ist eine Tieferlegung so ziemlich die effektivste Art, Lärmschutz zu betreiben.
Das 160 Millionen Euro teure Projekt, das auf den Namen »Neu-Ulm 21« hört und damit nebenbei das erste der berühmt-berüchtigten »21er-Projekte« ist, das fertig wird, hat aber noch andere, interessante Facetten. Das Empfangsgebäude beispielsweise ist eine Gruppe rundlicher, orangefarbener Pavillons unter einem Stahldach, von denen einer kanzelartig über die Deckelkante kragt und so geschickt alte Stellwerksgebäude zitiert. Auf dem Deckel wird eine zentrale Umsteigestation eingerichtet, so dass Bus und Bahn nur eine Treppe entfernt voneinander halten. Der Trog selber kann im Falle eines extremen Donauhochwassers kontrolliert geflutet werden, damit an der Wanne kein schürmannbaumäßiger Totalschaden durch Aufschwimmen entsteht.


Ein Trogbau ist nicht nur in Neu-Ulm das Mittel der Wahl, Bahninfrastruktur stadtkompatibel zu machen. Durch Los Angeles beispielsweise verläuft ein sechzehn Kilometer langer, dreigleisiger Betongraben, überspannt von dreißig Brücken. Dieser ist Teil des »Alameda Corridor«, erbaut von 1996 bis 2002 für etwa zwei Milliarden Euro, und nimmt den Hinterlandverkehr der Häfen von Los Angeles und Long Beach auf. Hier greift der Lärmschutzaspekt besonders, da nicht nur der infernalische Lärm mehrerer amerikanischer Lokomotiven pro Zug im Graben bleibt, sondern auch das nebelhornmäßige Tuten an Bahnübergängen wegfällt. Auch kann aus dem Graben der Dieselqualm problemlos abziehen, was beispielsweise bei einem Tunnel nicht der Fall wäre; Dieselbetrieb in Tunneln oder gar Tiefbahnhöfen ist eine nur schwer zur Zufriedenheit aller lösbare Aufgabe. Im Stuttgarter Hauptbahnhof werden beispielsweise nach der Tieferlegung im Projekt »Stuttgart 21« (siehe Prellblog 19) keine Dieselzüge mehr halten dürfen.
Ohnehin sind Tunnel erheblich teurer als Tröge, nicht zuletzt der Sicherheitsvorkehrungen wegen.

Andere verhältnismäßig neue Gleiströge finden sich unter anderem auf der AKN-Stammstrecke im Hamburger Norden, beispielsweise in Kaltenkirchen oder Eidelstedt; dort war die Tieferlegung aus dem Straßenverkehr heraus ausschlaggebend. Auch im Zusammenhang mit der Anbindung des neuen Berliner Großflughafens entstehen mehrere Kilometer Trogbauwerke.

Bild: Alexander Schneider (»Alexander@Ulm«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 15. November 2007

35: Projekt Eiertanz 4: Anforderungen

In der ersten Folge von Projekt Eiertanz (Prellblog 28) habe ich versucht zu beschreiben, warum die DB und ihr Besitzer den Börsengang anstreben. Nun ordnet sich der in einen Transformationsprozess namens Bahnreform ein, der bestimmte Ziele hat; und natürlich haben alle, die das System Eisenbahn nutzen, auch Interessen. Inwiefern tut der Börsengang etwas dafür oder dagegen?

Ziele der Bahnreform sind, knapp gesagt, Entlastung des Bundeshaushaltes und Verlagerung von Verkehr auf die Schiene, beides womöglich dauerhaft. Die Haushaltsentlastung wurde numerisch erreicht: Die Investitionen der DB werden seit ihrer Gründung zu zirka 30 bis 90 Prozent aus Eigenmitteln erbracht; der Rest sind hauptsächlich Bauzuschüsse. Nun gibt es Leute, die behaupten, diese Rechnung sei Augenwischerei, die Eigenmittel seien vollständig im staatlich bezahlten Nahverkehr erwirtschaftet, außerdem lasse die DB mutwillig ihre Infrastruktur verfallen, schreibe die bundesfinanzierten Immobilien (vor allem Neubaustrecken) nicht ordungsgemäß ab und reiße damit eine Investitionslücke auf, in die später der Staat nachzahlen müsse. Ich persönlich kann nicht feststellen, dass sich die DB in der unterfinanzierten deutschen Eisenbahnlandschaft irgendwie schädlicher verhielte als die ehemaligen Staatsbahnen; die DR lebte von der Substanz wie die ganze DDR, bei der Bundesbahn bröckelte bereits in den 1970ern das Bestandsnetz, und das ohne Anstrengungen zur flächendeckenden Rationalisierung, wie es sie heute gibt.
Die Verkehrsverlagerung hat im Nahverkehr funktioniert: Die Fahrgastzahlen sind um etwa 50 % gestiegen, es hat Streckenreaktivierungen und Ausbauten von Regionalstadtbahnsystemen in einem vorher unbekannten Ausmaß gegeben. Natürlich kann dies andere Gründe als die Regionalisierung gehabt haben, es drängt sich aber schon der Eindruck auf, dass die Länderhoheit und die Ausschreibungsmöglichkeiten erheblich beteiligt waren. Ein Erfolgsprodukt wie der niedersächsische Metronom wäre vor 1996 nicht denkbar gewesen. Im Güterverkehr schwankten die Verkehrsanteile bis vor kurzem, sprangen dann um 2004-2005 herum steil in die Höhe, zeitgleich mit dem Marktanteil der Nicht-DB-Güterbahnen. Auch hier ist die Bahnreform also zumindest teilweise verantwortlich. Wo es hapert, ist der Fernverkehr: Es gibt nur symbolischen Wettbewerb, die Fahrgastzahlen entwickeln sich nicht gerade flott nach oben.
Das Kundeninteresse im Güterverkehr scheint durch die neuen DB-Konkurrentinnen besser bedient zu werden als bei der schläfrigen Staatsbahn. Auch deren Nachfolgerin rappelt sich allmählich. (Wie es aussieht, wenn man auf Marktöffnung weitgehend verzichtet und die Staatsbahn weiterwurschteln lässt, sieht man an dem Fiasko der SNCF-Gütersparte.) Im Personenverkehr ist es nicht gerade simpel zu sagen, was Kunden überhaupt wollen. Die Konzentration des De-facto-Fernverkehrsmonopolisten auf den ICE wird von nahezu allen Interessengruppen, die sich artikulieren, lauthals beklagt, stößt aber bei der breiten Masse durchaus auf Zuspruch. Allerdings hinterlässt diese Strategie Lücken, die derzeit meistenteils nicht von DB-Konkurrenten mit Fernverkehrszügen, sondern unter hohem Einsatz öffentlicher Mittel durch schnellen, ganz oder teilweise bestellten Regionalverkehr geschlossen werden, häufig von der DB selber.
Der Börsengang in seiner bisher geplanten Form hätte eine einmalige Haushaltseinnahme beschert und vielleicht die moderate Dauerentlastung, die seit der Bahnreform besteht, geringfügig verstärkt, da der Bund mit dem System Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung einige neue Daumenschrauben erhalten soll, um die DB zu gutem Wirtschaften mit seinen Zuschussmitteln zu zwingen. Nun könnte man dieses Vereinbarungsregime durchaus schon heute, ohne Börsengang, einführen; bleibt nur der einmalige Erlös als Vorteil.
Die Finanzspritze für die DB hätte andererseits wohl weder für Nahverkehrs- noch für Güterkunden nachhaltig positive Ergebnisse, da diese in einem funktionierenden Markt nicht darauf angewiesen sind, dass die DB viel in den Verkehr investiert. Interessant würde es im Fernverkehr, wo große Rollmaterialinvestitionen geplant sind. Die Einnahmen des Börsengangs könnten beispielsweise die Ersatzneubeschaffung der InterCity-Flotte finanzieren, auf die schon seit etwa fünf Jahren gewartet wird.
Ich gehe davon aus, dass eine nach dem vorgeschlagenen Modell teilverkaufte DB weder signifikant besser noch schlechter mit dem Netz umgehen und der trotz aller Diskriminierung erfolgreiche Wettbewerb im Nah- und Güterverkehr sich auch nicht groß anders entwickeln wird. Einen kundenrelevanten Unterschied könnte es höchstens im Fernverkehr geben, wo wegen fehlender Marktöffnung die Finanzausstattung der DB wirklich etwas ausmacht. (Vom Auslandsgeschäft und den Nicht-Bahn-Aktivitäten der DB sei einmal abgesehen.)
Es wäre wohl eher im Kundeninteresse, setzten sich Bund und Länder zusammen, zu verhindern, dass auch fürderhin eingestellte DB-Fernverkehre durch staatsfinanzierte Regionalexpresse ersetzt werden. Dazu wäre eine geordnete Zusammenarbeit mit potenziellen Konkurrenz-Fernbahnen und deren Investoren nötig. Das scheiterte wohl am durch die Mehrheit beider Volksparteien durchlaufenden, ordnungspolitisch ungesunden Willen, die DB mit Staatsmitteln stark zu machen. Und genau dieser hat uns das gegenwärtige Börsengangmodell erst beschert.

Bild: Jim Crossley (»raindog«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 8. November 2007

34: Ad portas

Dienstag letzter Woche wurden nahe Bad Bellingen zwei hausgroße, meißelbesetzte Stahlscheiben enthüllt, die mitten in einer Baugrube aus einer Beton-Bohrpfahlwand herausgedrungen waren. Bekanntlich sind ja an allem entweder die Globalisierung oder die Schweizer schuld; diesmal sogar beide.
Durch die Alpen führen seit Jahrtausenden die wichtigsten Nord-Süd-Verkehrswege Europas, wobei an die Stelle von Wanderer und Saumtier mittlerweile Lkw und Güterzug getreten sind. Vor allem der Güterzug wird davon stark gefördert, was ökologische und ökonomische Gründe hat. In der Schweiz wird daher seit Jahren an diversen ganz ungeheuer langen neuen Alpentunneln gebohrt. Das Durchlöchern des Gebirges hat eigentlich seit dem Baubeginn am Mont-Cenis-Tunnel 1857 nie aufgehört. Und auch Frankreich, Italien und Österreich bauen in absehbarer Zeit neue Basistunnel.
Die Schweizer Stollen sind dabei für das Prellblog von besonderer Bedeutung, denn sie werden großenteils Verkehr von und nach Deutschland führen, der auf der seit 1945 wichtigsten deutschen Eisenbahnachse rollen muss, nämlich im Rheintal. Insofern musste, da in der Schweiz gegraben wird, auch in Deutschland gegraben werden, im Rahmen einer Neu- und Ausbaumaßnahme, die zu den teuersten und ausgedehntesten Bahnbauprojekten des Landes gehört (siehe auch Prellblog 21). Seit 1987 wird zwischen Karlsruhe und Basel ein neues Gleispaar gebaut, fertig wird das ganze Projekt wohl zwischen 2012 und 2014; es wird am Ende getrennte Gleise für Güter- und Regionalverkehr sowie den schnellen Fernverkehr geben.
Die Öffentlichkeit hat, wie ich meine, nicht allzu große Notiz davon genommen, dass das größte Bauwerk des neuen Streckenzuges am Dienstag letzter Woche sozusagen Richtfest hatte, als man am Isteiner Klotz den Durchschlag des Katzenbergtunnels feierte, mit besagter Enthüllung der durch die Zielwand gefahrenen Schneidräder. Wenn mit knapp zehn Kilometern auch nicht der längste Tunnel Deutschlands, war der Bau doch allein seines industriellen Ablaufs wegen bemerkenswert: Die beiden Tunnelbohrmaschinen fraßen sich fünfzehn Meter pro Tag durch den Stein, schafften die Gesamtstrecke in gut zwei Jahren und arbeiteten damit fast dreimal so schnell wie der Sprengvortrieb bei den ersten deutschen Hochgeschwindigkeitsstrecken. Der Abraum wurde straßenfreundlich über Förderbandstrecken abtransportiert und die Fabrik für die Betontübbings, mit denen der Tunnel ausgekleidet wurde, befand sich direkt auf der Baustelle.
Nach dem Durchschlag wird es noch vier Jahre dauern, bis der Tunnel in Betrieb gehen kann: Die Anschlussstrecken, die Querverbindungen zwischen den Röhren und die Lüftungsschächte müssen fertig gebaut werden, der Tunnel braucht Gleise, Fahrleitungen, Signaltechnik, Beleuchtung und so weiter und muss behördlich abgenommen werden, das braucht seine Zeit. Der Tunnelrohbau selbst macht nur etwa die Hälfte der Gesamtkosten von zirka einer halben Milliarde Euro aus.
Am Ende wird der Fernverkehr, statt bogig und mit maximal 75 Kilometern pro Stunde um das Gebirgsmassiv herumzutuckern, es mit 250 km/h unterfahren.
Damit sind noch nicht alle Probleme im Zulauf zu den neuen Alpentunneln gelöst. Es wird auch unter Freiburg und Rastatt noch Tunnelbauten geben, bis das dritte und vierte Gleis zwischen Karlsruhe und Basel überall liegt. Vielleicht wird die ausgebaute Rheintalbahn irgendwann auch die erste Strecke sein, die überlange Güterzüge sieht, wenn die für die Tunneldurchfahrt gebildeten 1500-Meter-Zugverbände einmal nicht mehr an den Portalen aufgelöst werden.

Bild: Mike »SqueakyMarmot« bei Flickr (Details und Lizenz)

Samstag, 3. November 2007

Kapazitätsengpass

Aus akademischen Gründen setzt das Prellblog einmal aus und ist am kommenden Donnerstag wieder da. Bis dahin ist auch hoffentlich mein Vorrat an Vorentwürfen wieder so weit aufgefüllt, dass ich die Artikel nicht mehr alle ad hoc schreiben muss wie in den letzten Wochen. Das sollte dann auch die chronischen Verspätungen beheben.

Freitag, 26. Oktober 2007

Was lange währt, verzögert die Abfahrt

Entgegen meiner Versprechungen von letzter Woche ist es auch diesmal wieder zu spät geworden, aber wenigstens mit einem guten Grund: Ich habe auf meinem Privatblog das seit Jahr und Tag überfällige Reisetagebuch meiner Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn 2005 vollständig veröffentlicht und dazu bis spät in die Nacht getippt. Vielleicht findet der oder die eine oder andere ja Gefallen daran.
Ursprünglich hatte ich überlegt, das Tagebuch scheibchenweise als Sonderrubrik zu veröffentlichen, aber das wäre doch ein wenig albern, wenn es ohnehin irgendwo in voller Länge steht.

33: Nah und fern

Im Zusammenhang mit dem Eisenbahnerstreik ist wieder einmal deutlich gemacht worden, dass es einen auch juristisch trennscharfen Unterschied zwischen Nah- und Fernverkehr bei den deutschen Eisenbahnen gibt. Eine vergleichbare Unterscheidung macht man wohl auch in Schweden.

Für alle, die sich mit der von DB-Personal gerne gebrauchten Faustregel »Fernverkehr sind die weißen Züge, Nahverkehr die roten« nicht zufrieden geben wollen, sei es, weil sie wissen, dass es eine ganze Menge DB-Konkurrenzunternehmen gibt, oder weil Reste des DB-Fahrzeugparks bis heute nicht umlackiert worden sind, hier daher eine ausführliche Erklärung.
Nahverkehr wird von den Ländern bestellt (wenn auch großenteils vom Bund bezahlt). Rechtsgrundlage sind das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) und das Regionalisierungsgesetz (RegG). Darin findet sich dann auch eine Definition von Nahverkehr:
Öffentlicher Personennahverkehr im Sinne dieses Gesetzes ist die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen. Das ist im Zweifel der Fall, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt.
Dass die DB-Nahverkehrszüge rot (und die der meisten Konkurrentinnen bunt) sind, hat also primär nichts mit der Sache zu tun. Natürlich gibt es auch eine Menge Nahverkehrslinien, die einen deutlich weiter als 50 Kilometer befördern und länger als eine Stunde herumkutschieren können; daher die Formulierung »im Zweifel«, die wohl realiter erst dann relevant wird, wenn wirklich einmal ein Eisenbahnunternehmen versucht, den bestellten Nahverkehr von einer Strecke wegzuklagen um dort eigenwirtschaftlichen Fernverkehr anzubieten.
Denn das ist es, was den Fernverkehr ausmacht, dass auf eigene Rechnung und eigenes Risiko gefahren wird. Es gibt allerdings ordnungspolitisch fragwürdige Grenzfälle, wo zum Beispiel ein öffentlicher Zuschuss an die DB gezahlt wird, um eine ICE-Linie zu erhalten. Fernverkehrszüge werden zwar ganz überwiegend von der DB gefahren und sind deswegen wirklich meistens weiß, aber es gibt ein ganz klein wenig Konkurrenz, vor allem den InterConnex Leipzig-Berlin-Rostock-Warnemünde und den Berlin Night Express Berlin-Malmö.

Eine weitere relevante Abgrenzung, wo wieder die 50 Kilometer ins Spiel kommen, hat mit der Steuer zu tun: Auf
die Beförderungen von Personen im Schienenbahnverkehr mit Ausnahme der Bergbahnen, im Verkehr mit Oberleitungsomnibussen, im genehmigten Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen, im Verkehr mit Taxen und im genehmigten Linienverkehr mit Schiffen sowie die Beförderungen im Fährverkehr
a) innerhalb einer Gemeinde oder
b) wenn die Beförderungsstrecke nicht mehr als fünfzig Kilometer beträgt
wird laut Umsatzsteuergesetz nur der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 % erhoben. Es ist ausdrücklich nicht die Rede von Nahverkehr oder irgendwelchen Zuständigkeiten, das heißt also, dass steuerrechtlich auch eine Fahrt im Fernverkehr Nahverkehr sein kann und umgekehrt. Ob es möglich ist, irgendwo in Deutschland eine Fahrkarte für eine Strecke irgend eines Verkehrsmittels zu kaufen, die länger ist als 50 Kilometer, aber vollständig innerhalb einer Gemeinde liegt und daher als Nahverkehr besteuert wird, weiß ich nicht.

In der Statistik wird, soweit ich weiß, einfach alles unter 50 Kilometern als Nah- und alles darüber als Fernverkehr gerechnet.

Bild: Troy Mason bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 19. Oktober 2007

Fahrplanstabilität

Das Prellblog ist nun schon zum wiederholten Male erst freitags erschienen. Diesmal wäre es beinahe sogar Samstag geworden. Ich gelobe für die Zukunft Besserung, allerdings war ich gestern und heute wirklich ziemlich unpässlich.

32: Projekt Eiertanz 3: Ängste

Im dritten Teil von Projekt Eiertanz möchte ich mich mit den Gefahren beschäftigen, die ein Börsengang der Deutschen Bahn mit sich bringen könnte.

Befürchtung Nummer eins ist wahrscheinlich die Stilllegung von Strecken und Bahnhöfen. Hierzu werden auf der einen Seite Schreckensszenarien verkündet, die mit dem mittelfristigen Wegfall von bis zu einem Drittel des Netzes rechnen; auf der anderen Seite wiederholen die Zuständigen das Mantra, die DB könne ja keine Strecken stilllegen, das könne nur der Bund. In der Tat ist es so, dass ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das Infrastruktur loswerden will, zunächst öffentlich versuchen muss, diese an Dritte abzugeben, bevor es sie mit behördlicher Genehmigung stilllegen darf. Die Frage ist dann, welche Dritten die häufig mit erheblichem Investitionsbedarf (altertümliche Stellwerkstechnik, bröselnde Brücken, feuchte Tunnels) belasteten Strecken haben wollen. Das Geld für deren Sanierung muss so oder so aus der öffentlichen Hand kommen, auch wenn bekanntermaßen Nicht-DB-Unternehmen so etwas generell signifikant billiger hinbekommen.
Die Stilllegung darf man nicht verwechseln mit der Einstellung des Verkehrs - wenn der zuständige Aufgabenträger keinen Nahverkehr mehr bestellt, dann fährt auch keiner mehr, selbst wenn die Strecke weiterhin als Eisenbahnstrecke gewidmet bleibt. Und die meisten Strecken, bei denen die Stilllegung zur Debatte steht, sehen außer Nahverkehr keine Züge. Diese Abbestellung von Verkehren ist ein wesentlich kritischeres Problem: Die DB-Infrastrukturunternehmen (DB Netz, DB Station&Service, DB Energie) könnte sie durch das Anheben der den Eisenbahnunternehmen berechneten Gebühren für die Infrastruktur praktisch erzwingen. Diese Gebühren unterliegen jedoch allesamt der staatlichen Regulierung.
Prinzipiell lässt sich sagen, dass dort, wo der politische Wille zur Erhaltung oder zum Ausbau der Eisenbahn besteht, dies auch machbar ist - zu sehen ist dies beispielsweise im Lande Rheinland-Pfalz. Zudem kann man böse sein und argumentieren, dass es schon viel schlimmer war - die großen Stilllegungswellen gab es, zumindest in Westdeutschland, lange vor der Bahnreform. Die Gefahr sehe ich persönlich nicht im Börsengang selber, sondern daran, dass Bundes- und Länderinteressen nach einem solchen noch stärker gegeneinander stehen könnten als jetzt schon: Der Bund könnte versuchen, auf Kosten des Nahverkehrs und des Wettbewerbs im Güterverkehr der DB das Geschenk höherer Gebühreneinnahmen zu machen, und damit die Länder zu Abbestellungen zwingen.
Das zweite Gespenst an der Wand ist das des »Ausverkaufs«, der »Verschleuderung von Volksvermögen«, wie es bei einschlägigen Organisationen heißt: Gibt der Staat da nicht etwas völlig unter Wert ab? Soll da nicht ein Dutzende Milliarden schwerer Besitz für einen vergleichbaren Pfennigbetrag verkauft werden? Es ist schwierig, über den Preis von etwas zu reden, was es nur einmal gibt und was noch nie ge- oder verkauft wurde; es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die DB-Anteile ziemlich genau das Wert sind, was jemand dafür zu zahlen bereit sind. Die Frage muss eigentlich nicht die sein, ob der diskutierte Erlös in einem richtigen Verhältnis zum »Wert« der Anteile steht, der ohnehin eine recht abstrakte Zahl ist, sondern ob es mittel- bis langfristig den Staat nicht günstiger kommen könnte, die Anteile zu behalten. Zu dieser Annahme gibt es durchaus Gründe.
Sonstige Befürchtungen wie die, einheitliche Fahrpläne, Tarife und Informationsquellen könne es nach einem Börsengang nicht mehr geben, sind alle einigermaßen haltlos; sie werden durch die Realität zum Beispiel der britischen Bahnen bereits widerlegt.
Langsam dürfte meine Leserschaft damit auch gemerkt haben, wie meine Haltung zur Börsengangsdebatte aussieht: Ich halte das Manöver selbst nicht für gefährlich, sondern das Interesse gewisser Kreise in der Politik, die Marktmacht der Deutschen Bahn vor, während und nach einem Börsengang mit politischen Mitteln abzusichern, gegebenenfalls unter Inkaufnahme nicht nur eines finanziell schlechteren Deals, sondern auch kontraproduktiver Auswirkungen für den gesamten Verkehrssektor.

Bild: Jack Delano (Farm Security Administration) 1943 über Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Donnerstag, 11. Oktober 2007

31: Anziehung und Abstoßung

In München wird nicht erst seit gestern darum geschachtert, wie denn der Transrapid, den sich der eine oder andere da wünscht, finanziert werden soll. Ich will gar nicht über Für und Wider dieses Bauprojekts und die ganzen komplizierten Modalitäten sprechen, sondern dem Thema dieses Blogs gemäß über das nicht ganz einfache Verhältnis zwischen Transrapid und Eisenbahn.

Als die konkrete, staatliche geförderte Forschung an Magnetschwebebahnen in Deutschland begann, fuhren seit etwa fünf Jahren planmäßige Züge in Japan mit 200 km/h, aber das war schon ziemlich das Ende der Fahnenstange. Es war nicht klar, ob deutlich höhere Geschwindigkeiten auf Schienen überhaupt mit verhältnismäßigem Aufwand beherrschbar sind, das System schien ganz oder nahezu ausgereizt.
Insofern war es nicht nur naheliegend, sondern fast zwingend, sich für den schnellen Landverkehr nach technisch ganz anderen Lösungen umzusehen. Man kam im Laufe der Arbeiten dann auf eine Magnetschwebebahn, die von computergesteuerten Magneten schwebend über einem Fahrbalken gehalten und von einem in diesem Balken installierten Linearmotor vorangetrieben wird. Man könnte mit einem solchen Zug prinzipiell senkrecht die Wand hochfahren oder dreifache Schallgeschwindigkeit erreichen; das Prinzip ist geradezu berauschend.

Nur veränderte sich in der Zwischenzeit auch die technische Landschaft bei der Eisenbahn. Die sogenannte Lauftechnik, das heißt, Räder, Achswellen, Drehgestelle, Federungen und so weiter, stellte sich als immens ausbaufähig heraus. Heutzutage beherrscht man Geschwindigkeiten jenseits der 500 km/h auf der Schiene, was die immer neuen Rekorde eindrucksvoll belegen. Zuletzt tastete sich der TGV so weit vor, dass 600 km/h in greifbarer Reichweite liegen. Das Geschwindigkeitsargument kann die Magnetschwebebahn nicht mehr absolut vorbringen.
Natürlich gibt es auch anderswo Unterschiede. Das Beschleunigungsvermögen von Eisenbahnen ist durch die Reibung zwischen Rad und Schiene begrenzt. Der Lärm ist ein ganz anderer, der Fahrkomfort steht auch zur Debatte; und es bleibt über allem die Frage, wie es mit den einmaligen und den laufenden Kosten aussieht.
Die Entwicklung der modernen elektrischen Antriebstechnik mit computergesteuerten, von Leistungselektronik gespeisten Drehstrommotoren hat dabei ganz erstaunliche Beschleunigungswerte auch unter widrigen Bedingungen ermöglicht, der Fahrkomfort profitiert von modernen Luftfederungen und einer hochgezüchteten Gleisbau- und -unterhaltungstechnik, die eine buchstäblich millimetergenaue Lage der Gleise sicherstellt. Der Lärm bleibt ein Problem, allerdings stellen die rumpeligen alten Güterzüge da jeden Hochgeschwindigkeitszug spielend in den Schatten. Was die Kosten angeht, gibt es keine überwältigenden Hinweise darauf, dass der Streckenbau oder der Energieverbrauch bei Magnetschwebebahnen nachhaltig günstiger ausfallen dürften.
Bleibt das Netzargument: Nahezu jede Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke verbessert das bestehende Netz, weil sie auch für Züge, die nicht ihren ganzen Weg auf ihr zurücklegen, die Fahrzeit verkürzt, und Trassen für Güterzüge freimacht, sofern sie nicht selbst nachts für den Güterverkehr genutzt werden kann. Der Transrapid muss, wenn er irgendwo gebaut wird, für diese Punkt-zu-Punkt-Verbindung überwältigende Vorteile zeigen, die unter anderem groß genug sind, um den Komfortverlust durch ein oder zwei zusätzliche Umstiege auszugleichen. Mit dem Aufholen der Eisenbahn in allen Bereichen ist es aber schwierig geworden, diese revolutionären Vorteile nachzuweisen. Nicht umsonst ist die Magnetschwebebahn nach ernsthaften Untersuchungen und Planungen weder für die Strecke Hamburg-Berlin noch für die Strecke Frankfurt-Köln realisiert worden.

Bild: Hugh Sanders (hues06) bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 5. Oktober 2007

30: Projekt Eiertanz 2: Mittel und Wege

In Projekt Eiertanz 1 habe ich besprochen, warum ein Börsengang der Deutschen Bahn AG überhaupt auf der Tagesordnung steht; in der zweiten Folge dieser Serie zum Thema möchte ich darüber reden, wie es denn gehen könnte.

Der Grundgesetzartikel 87e stellt ziemlich klar, was geht und was nicht:
(3) Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form geführt. Diese stehen im Eigentum des Bundes, soweit die Tätigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfaßt. Die Veräußerung von Anteilen des Bundes an den Unternehmen nach Satz 2 erfolgt auf Grund eines Gesetzes; die Mehrheit der Anteile an diesen Unternehmen verbleibt beim Bund. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.
Man sieht, dass der Weg ziemlich klar vorgezeichnet ist - die private Rechtsform ist ebenso vorgeschrieben wie der Mehrheitsanteil der Staatshand; die Veräußerung von Anteilen ist ausdrücklich vorgesehen, aber mehr als 50 Prozent minus eine Aktie dürfte der Bund nicht verkaufen. Auf der anderen Seite sagt der Grundgesetzartikel nichts darüber aus, was mit Eisenbahnunternehmen zu tun ist, die keine Schienenwege bauen, unterhalten oder betreiben; da die DB allerdings die einzige Bundeseisenbahn ist und ganz offensichtlich ein Schienennetz baut, unterhält und betreibt, ist die Frage mehr oder minder akademisch.
Dies heißt unter anderem, dass wenn alles verkauft wird, was verkauft werden darf, der Bund als hälftiger Eigner am internationalen Logistikkonzern DB beteiligt bleibt und unter anderem gezwungen sein wird, eventuelle Kapitalerhöhungen mitzumachen, um nicht gegen das Grundgesetz zu verstoßen. Andersherum wird ebenfalls ein Schuh draus: Der internationale Logistikkonzern DB wäre gezwungen, eventuelle Kapitalerhöhungen nach der Haushaltslage der Bundesrepublik Deutschland auszurichten.
Daher die Idee einiger Politiker, stimmrechtlose Vorzugsaktien zu verkaufen und keine Stammaktien. Da wäre dann nur die Frage, wer die haben wollen könnte - institutionelle Großinvestoren, wie sie im Moment für den Börsengang als Käuferkandidaten gelten, eher nicht, denn welche Fondskunden würden schon akzeptieren, dass ihr Management ein Unternehmen ins Depot aufnimmt, auf das sie keinen Einfluss haben? Die stimmrechtlose Vorzugsaktie müsste also eine Aktie für Kleinanleger sein, am besten noch mit einer Garantiedividende ausgestattet. Wenn das alles klappt und sich genügend Leute finden, die so eine Aktie kaufen wollen, wäre der Bund immer noch alleiniger stimmberechtigter Eigner des DB-Konzerns mit all seinen für das deutsche Bahnwesen nicht gerade essenziellen Aktivitäten. Das wirkt alles ein bisschen unbefriedigend.
So oder so gilt der Folgeabsatz:
(4) Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.
Die unter den Hut zu kriegenden Anforderungen und Interessen sind also viele: Einmal muss die Mehrheit des Bundes an allen bundeseigenen Schienennetzbetreibern gewahrt bleiben; zum zweiten soll dem Wohl der Allgemeinheit beim Ausbau und Erhalt der Bundesschienenwege sowie dem darauf angebotenen Fernverkehr Rechnung getragen werden; zum dritten will die DB an allen Fronten kräftig expandieren; zum vierten ist es ordnungspolitisch geboten, einen Konzern wie die DB aus der Staatshand zu nehmen.
Ein weiteres Interesse der DB selber ist es natürlich, ihre bröckelnden Marktanteile im liberalisierten deutschen Schienenverkehr zu stabilisieren, und hier ist die Crux bei der Sache: Auch weite Teile der Politik tragen dieses Interesse mit. Paradoxerweise sind hier Befürworter und Gegner des Börsengangs einander ganz nah, weil sich beide eine möglichst starke DB wünschen - die einen als »europäischen Champion« in einem mehr oder minder freien Markt, gestützt durch ein De-facto-Monopol im eigenen Hinterhof; die anderen als Staatsbahn, meistens nach dem, was man durch eine stark idealisierende Brille für das »Vorbild Schweiz« hält.

Bild: Florian Schütz bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Donnerstag, 27. September 2007

29: Die Härte

Die Eisenbahn ist nach wie vor das einzige spurgebundene Verkehrsmittel, das weltweit in nennenswertem Netzausbau existiert. Ein Hauptgrund dafür ist wahrscheinlich, dass keines der Konkurrenzkonzepte eine annähernd so flexible, kompakte und günstige Lösung für den Übergang von einem Gleis aufs andere hat wie die Eisenbahnweiche eine ist.

Das Konzept ist in seiner Grundform bestechend einfach: Das gerade und das abzweigende Gleis werden so verlegt, als sei beides gleichzeitig am selben Ort möglich. Dort, wo sich dabei Überschneidungen ergeben, werden die Schienen so unterbrochen, dass ein Spurkranz durchpasst. Dort, wo die Schienen zusammenlaufen, bildet man die Enden der abzweigenden Schienen beweglich aus. Radlenker (kurze Führungsschienen für die Spurkränzen an den passenden Stellen) verhindern Entgleisungen; dazu noch ein Hebel und die Urform der Weiche ist fertig.
Das Bezaubernde an der Weiche ist, dass sie fließend skalierbar ist. Eine Weiche auf einer modernen Hochgeschwindigkeitsstrecke beispielsweise ist eine fußballfeldlange High-Tech-Maschine, hergestellt von internationalen Firmenkonsortien, die über zwanzig Meter lange bewegliche Zungen mit einer ganzen Reihe synchronisierter elektrohydraulischer Antriebe auf speziellen Gleit- und Rollvorrichtungen bewegt und mit cleveren Mechanismen verriegelt. Auch das sogenannte Herzstück, an dem sich die Schienen schneiden, ist bei solchen Weichen nicht nur ungeheuer lang, sondern beweglich, so dass die genannten Lücken je nach Fahrtrichtung geschlossen werden. Der Apparat wird wie jede moderne Weiche bei widriger Witterung elektrisch beheizt, damit er nicht vereist. Die Krümmung des abzweigenden Strangs ist eine komplexe Kurve, berechnet, um das Durchgeschütteltwerden beim Überfahren möglichst zu begrenzen. Am Ende hat man dann eine Vorrichtung, die einen Zug bei unwahrscheinlichen Geschwindigkeiten (220 km/h in Spanien) von einem Gleis einer Strecke aufs andere leiten kann, ohne dass im Bistro auch nur ein Kaffee überschwappt.
Auf Rangierbahnhöfen gibt es Weichen, die sich in einer Minute vierzig Mal umstellen, um zerlegte Züge gleichmäßig über quadratkilometergroße Gleisareale zu verteilen. 

Aber die rumpeligen, handgestellten Weichen gibt es trotzdem noch, und dieselben Züge können beide befahren. Zwar versuchen alle Bahnunternehmen heute an Weichen zu sparen, so viel es geht, einerseits an der Wartung (schmierölfreie Zungenrollvorrichtungen und ionenstrahlgehärtete Schienenkanten machen das Controlling glücklich), andererseits durch Abbau und Verschrottung. Aber dass insgesamt Eisenbahnweichen ein Schnäppchen sind verglichen mit Einschienenbahn- oder gar Transrapid-Weichen, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Bild: k_s_____s_k_ bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 21. September 2007

28: Projekt Eiertanz 1: Gründe

»Projekt Eiertanz« ist der Versuch, das Thema des Börsengangs der Deutschen Bahn AG vorsichtig, und soweit möglich neutral, anzugehen. Dazu möchte ich in dieser ersten Folge zunächst behandeln, was der Ausgangszustand ist, weshalb der Börsengang überhaupt nötig sein soll und welche populären Missverständnisse sich bereits bei der Beschreibung dieser Situation ergeben.

Seit der Bahnreform 1994 sind die Eisenbahnen des Bundes zusammengefasst unter dem Dach der Deutschen Bahn, einer Holding-Aktiengesellschaft. Zur DB gehören unzählige Tochterunternehmen, darunter diverse Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) und Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU). Den DB-EIU, darunter vor allem die DB Netz AG, gehört fast das gesamte deutsche Eisenbahnnetz. Die DB-EVU beherrschen den Markt im eigenwirtschaftlichen Personenfernverkehr, sind der größte Anbieter von Schienengüterverkehr und leisten den Löwenanteil des Schienenpersonennahverkehrs in öffentlichem Auftrag. In den letzten beiden Feldern bricht der Marktanteil der DB im Wettbewerb allerdings seit einiger Zeit ein.
Zum DB-Konzern gehören aber außerdem auch verhältnismäßig erfolgreiche Firmen, die sich nicht direkt mit Schienenverkehr befassen - dazu gehören Busunternehmen, eine international agierende Land-, Luft- und Seespedition (Schenker), aber auch eine ganze Reihe von Dienstleistungssparten, die auch konzernextern agieren. So verwaltet die DB Fuhrparks, betreibt Kraftwerke, bietet Fortbildungen und IT-Beratung an oder plant Bauprojekte für Dritte. Und natürlich fahren auf dem Netz auch die Züge der Konkurrenzbahnen.
Nun befinden sich einige dieser Geschäftsfelder in einem nachhaltigen Aufschwung. Die globale Logistik sowieso, aber auch der Schienengüterverkehr in Europa zieht derzeit so stark an, dass zum Beispiel gar nicht so viele neue Güterwagen eingekauft werden können, wie man eigentlich bräuchte. Der lange stagnierende Fernverkehr hat derzeit auch ein bisschen Konjunktur, unter anderem deswegen, weil seit 2002 in schneller Folge eine ganze Reihe von Infrastruktur-Leuchtturmprojekten ans Netz gegangen sind, die nicht nur für gute Publicity, sondern auch für realen Reisendennutzen gesorgt haben. Und da der DB ja das Netz gehört, profitiert sie sogar von Verkehren, die ihre Konkurrenten neu generieren. Das ist unfein, aber der derzeitige Status quo.
Nun expandiert das Geschäft also, die DB ist mittlerweile, obwohl ihr immer mehr Wettbewerber mit ihren bunten Containerzügen auf den Füßen herumfahren, ein dominanter Akteur im europäischen Bahn- und im weltweiten Logistikgeschäft. Außerdem will der komfortabel ausgestattete Nahverkehrsbereich gegen die Konkurrenten verteidigt werden, die unablässig daran nagen, und wo mit den kommenden Ausschreibungen richtig große Brocken (zum Beispiel die S-Bahn Stuttgart) wegfallen könnten. Will man da seine Potenziale nutzen, braucht man Kapital, und die verschiedenen Finanzierungsinstrumente, die dem Konzern in seiner gegenwärtigen Form als hundertprozentiger Staatsbesitz zur Verfügung stehen, sprich: Schuldenmachen in unterschiedlichen Farben und Formen, würden nur die Eigenkapitalquote drücken, was irgendwann nicht mehr sehr opportun ist. Eine Kapitalerhöhung durch den derzeitigen Eigner, die Bundesrepublik Deutschland, ist allerdings fragwürdig hinsichtlich der Haushaltslage und auch ordnungspolitisch ist nicht ganz klar, warum ein Staat als Akteur im internationalen Logistikmarkt auftreten sollte. Daher also die Idee: Die Firma ganz oder teilweise verkaufen - und da sie derzeit auch noch profitabel ist, kann man mit Investoreninteresse rechnen, vor allem, da Eisenbahnen als Anlage gerade wieder schwer in Mode kommen.
Populäre Vereinfachungen in diesem Bereich gibt es vor allem zwei:
Einmal wird oft behauptet, die DB sei ohne Subventionen nicht profitabel und deswegen nur ein Umverteilungskanal aus der Staatskasse in private Hände. Unter dem Kampfbegriff »Subvention« werden dabei die Investitionszuschüsse für Bauprojekte und Ähnliches und die Bestellerentgelte für den Nahverkehr zusammengerechnet. Letztere zählen schon einmal gar nicht, da es sich um die Bezahlung für bestellte Leistungen handelt: Die Aufgabenträger sind hier die Kunden der DB (oder ihrer Konkurrenz). Die Investititionszuschüsse wiederum sind ganz eindeutig »Geschenke« an die DB, werden jedoch von einem nicht unbeträchtlichen Eigenanteil (insgesamt und brutto meistens so um die 50%) begleitet; es können also durch diesen Modus Projekte realisiert werden, die in reiner Staatsfinanzierung vielleicht so nicht drin wären. Es ist schon so, dass die DB ohne Staatsmittel bilanzmäßig völlig anders da stehen würde; aber das hat sie mit jedem Unternehmen gemeinsam, zu dessen Haupteinnahmequellen Aufträge der öffentlichen Hand gehören, zum Beispiel mit fast jeder Tiefbauunternehmung. Ob in dieser unübersichtlichen Gemengelage das Erwirtschaften von Profiten durch die beauftragten Unternehmen im Sinne der deutschen Staatsraison ist oder nicht, lässt sich nicht pauschal sagen. Man hat jedenfalls in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass es Vorteile haben kann, wenn nicht alle Aufgaben, die der Staat bezahlt, von direkt alimentierten Staatsdienern erledigt werden.
Zum zweiten wird gerne behauptet, die DB sei, da durch Steuergelder aufgebaut, Volkseigentum; dass die Gleichsetzung von Volk und Staat hoch bedenklich, um nicht zu sagen totalitär, ist, sollte fast 90 Jahre nach der Oktoberrevolution auch langsam klar sein.

Bild: Hans Schlieper bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Donnerstag, 13. September 2007

27: Zu spät, zu spät

Dass der Güterverkehr boomt, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Im Moment tut es besonders der sogenannte Seehafenhinterlandverkehr. (Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich, wie groß ein Seehafenhinterland sein kann, fahren doch Züge aus den deutschen Häfen bis nach Mailand und weiter.) Entsprechend hagelt es Forderungen, Masterpläne und Wehrufe dazu, wie diese Verkehre bewältigt werden sollen oder nicht bewältigt werden können. Und man sieht ein bekanntes Muster: Was den Neubau von Bahnstrecken angeht, um die vielen Globalisierungskisten und Flachstahlrollen aufzunehmen, heißt es, das dauere viel zu lang, und käme zu spät.

Man hat das schon ähnlich erlebt, als erst der Metrorapid und dann der Rhein-Ruhr-Express »zu spät« zur Fußball-WM kommen sollten; über den Bau von Eisenbahnstrecken wird, sofern er mehr als fünf, sechs Jahre dauert, immer schon gerne so geredet, als brauche die dann keiner mehr. Sind das dieselben Leute, die der niedrigen Geburtenraten wegen meinen, in zehn Jahren seien die Deutschen ausgestorben? Ich erinnere mich da an einen öffentlich-rechtlichen Fernsehbericht, wo die Aussage der DB-Führung, die zugegebenermaßen in der Realisierung damals leicht lahmenden Neubaustrecken zwischen München und Berlin integrierten sich in die europäische Hauptmagistrale von Skandinavien nach Italien, nicht einmal sachlich besprochen, sondern sofort als lächerliche Ausrede abgetan wurde - dabei ist sie selbstverständlich wahr. Nur ist es anscheinend so, dass man den Bau einer Eisenbahnverbindung von transkontinentalen Dimensionen, vor allem, wenn er Jahrzehnte dauert, grundsätzlich als »zu spät« oder sonstwie sinnlos ansieht, ganz gleich was er bringen könnte.

Problem scheint mir das populäre Verständnis davon, wie Verkehr und Verkehrswege funktionieren; eines, das uns auch die Idee eingetragen hat, Autobahnengstellen seien »Nadelöhre« und ihre Beseitigung führe zu fließendem Verkehr auf der Gesamtstrecke. Man stellt sich den Verkehrsakteur so ein bisschen vor wie in SimCity, wo der Simulationsalgorithmus Routen erzeugt und prüft, ob und wie ein Sim diese Strecke zurücklegen kann; kann er, tut er es und ist glücklich; kann er nicht, lässt er es bleiben und ist unzufrieden.
Verkehrsnachfrage ist aber nicht einfach so da und wird durch Wege befriedigt, sondern wird erheblich durch den Bau von Verkehrswegen angezogen. Andererseits wird nicht jeder Verkehr durch vorhandene Wege generiert, sonst gäbe es keine Trampelpfade und keine positiven Nutzenrechnungen für neue Bahnstrecken. Wäre das Verhältnis zwischen Verkehrsnachfrage und Infrastrukturangebot weniger verquast dialektisch, bräuchte man sich ja auch nicht Tausende von Experten mit Großrechnerbatterien und jährlichen Fachkongressen dafür zu halten, es zu modellieren.
Wer eine Bahnstrecke von Frankfurt nach Köln in ihrer gegenwärtigen Form baut, darf sich beispielsweise nicht wundern, wenn in Limburg auf einmal scharenweise Fernpendler siedeln und die Immobilienpreise hochtreiben und ausgerechnet Montabaur zur Bürostadt wird. Die Strecke schafft sich ihre Nachfrage. Nicht anders ist es mit der hip gewordenen Pendelei zwischen Hamburg und Berlin. Dass Ludwigshafen ein S-Bahn-Netz und neben dem katastrophalen Hauptbahnhof einen vernünftig gelegenen Bahnhalt in der Stadtmitte bekommen hat (Einweihung 2003), kann nicht nur Autofahrerinnen zum Umstieg, sondern auch Leute zum Umzug in die Dörfer bewegt haben, alleine schon, weil man die neuen Bahnhöfe und Züge auch benutzen kann, wenn man an Rollator oder Kinderwagen gefesselt ist.
Wer einer Brauerei oder einem Maschinenbauer einen neuen Gleisanschluss baut wie in Warstein oder Aurich, verlagert nicht nur bestehenden Verkehr auf die Schiene, sondern macht eventuell Werksausbauten erst möglich, weil sonst die Grenzkosten durch die Mehrtransporte zu hoch geworden wären. Wer einem Seehafen eine neue Bahnanbindung spendiert, wird dort Verkehr neu ordnen, so oder so.
Insofern ist es abwegig, Verkehrswege, die nicht ausschließlich für ein bestimmtes Ereignis gebraucht werden, als »zu spät« für nutzlos zu erklären. Verkehrswege gestalten die wirtschaftliche Transaktionslandschaft unmittelbar. Der Vorteil von Bahnsystemen ist dabei, dass sie dies kontrollierbarer und ökologisch tragbarer tun als Autostraßen.

Übrigens: Die S-Bahn-Verlängerung nach Homburg (Saar) sollte eigentlich zur Fußball-WM fertig sein und war es nicht. Das Leben ging weiter, die S-Bahn fährt; gerüchteweise haben die Lokalzeitungen andere Themen gefunden.

Bild: Rob Brewer alias »rbrwr« bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 7. September 2007

26: Ohne Helm und ohne Gurt

Viele Verkehrsmittel, mit denen man heute unterwegs sein kann, kennen die Gurtpflicht. Im Auto ist sie (zunächst in Westdeutschland) 1976 eingeführt worden und wird durchaus durchgesetzt. In der Luftfahrt und in Fernreisebussen soll man den Gurt anlegen, auch wenn dies meist nicht ernsthaft kontrolliert wird.

Warum fahren wir also nicht mit Gurt Bahn?
Es gibt dazu zwei Argumentationsstränge.
Der erste hat mit der Eigenart des Fahrzeugs zu tun. Der Gurt im Auto dient dazu, den Körper des Fahrgasts mit der Struktur des Fahrzeugs zu verbinden, so dass bei einer rapiden Verzögerung, wie sie bei einem Aufprall auftritt, dieser sich nicht im Fahrzeug weiter mit der Ausgangsgeschwindigkeit nach vorne bewegt und auf das Armaturenbrett, gegen die Vordersitze oder durch die Frontscheibe schlägt. Das leuchtet ein, weil dieser Aufprall gegen das Fahrzeuginnere eine der Hauptursachen von Verletzungen und Todesfällen bei Autounfällen ist.
In der Eisenbahn sieht das Ganze etwas anders aus, da die Fahrzeuge um Größenordnungen länger sind. Verletzungen und Todesfälle in der Bahn kommen weniger durch das Vorgeschleudertwerden zu Stande, sondern durch Zerquetschen, wenn der Zug beim Aufprall zusammengeschoben wird - die Verzögerung verteilt sich deutlich anders. Auch die einschlägigen Sicherheitsvorschriften beziehen dies ein: So sind deformierbare Elemente und Knautschzonen, wie man sie von Autos kennt, seit kurzem auch für Lokomotiven und Triebwagen zunehmend Standard. (Die Eisenbahn lernt durchaus vom Straßenverkehr - Fernlicht haben Züge auch noch nicht lange.)
Für die Leute ganz vorn im Zug, sprich die Lokführer, gehört es sogar zum Sicherheitskonzept, nicht angeschnallt zu sein, denn die Sicherheitskonzepte gehen normalerweise davon aus, dass die Person im Führerstand noch vor dem Zusammenstoß aufspringen und sich in Sicherheit bringen kann. Dies ist einer der Gründe dafür, warum der Überlebensraum, der bei modernsten Lokomotiven technisch gesichert ist, hinter dem Führersitz liegt, und warum es bei Triebzügen verboten ist, die Führerraumtür mit Gepäck zu verstellen: Es ist weiterhin die Devise für Lokführer, vor einem Aufprall nach hinten zu rennen und sich flach auf den Boden zu legen.
Trotzdem könnten Gurte, zum Beispiel für die Fahrgäste im ersten Wagen, etwas bringen. Aber hier greift die zweite Argumentation. Sie hat mit etwas zu tun, was man makaber mit »Letalitätsökonomie« oder »Unglückswirtschaft« umschreiben könnte. Es ist derzeit mehr als dreißigmal so wahrscheinlich, beim Zurücklegen eines Kilometers im Straßenverkehr umzukommen als beim Zurücklegen eines Kilometers auf der Schiene. Das Verletzungsrisiko ist sogar mehr als siebzigmal höher. Und das beim gegenwärtigen Stand, ohne Gurt.
Würde man nun Gurte einführen, könnte dies die Spanne noch erhöhen. Aber sicherlich führte eine Gurtpflicht dazu, dass viele Fahrgäste von der Bahn auf andere Verkehrsträger wechselten - und dies wahrscheinlich in erster Linie auf das Auto. Die Gesamtzahl von Verletzten und Toten wüchse also, wenn Gurte nicht etwa dreißigmal so viele Menschen vor dem Unfalltod und mehr als siebzigmal so viele vor einer Unfallverletzung retteten als wegen ihnen auf das Auto ausweichen. (Eine ähnliche Argumentation gibt es für die Helmpflicht für Fahrradfahrer, die nach Aussagen der Fahrradlobby die Gesamtzahl der Verletzten und Toten im Verkehr steigern könnte, da viele dann einfach nicht mehr Fahrrad führen, sondern gefährlichere Verkehrsmittel nutzten.)
Derzeit gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Gurte im Zug auch nur annähernd dieses Kriterium erfüllen könnten. Daher spricht außer schlecht informierten Journalisten auch niemand mehr von Gurtpflicht im Zug; und selbst in der Presse ist es still um das Thema geworden.
Nebenbei: Viele, wenn nicht die meisten Unfallopfer im Eisenbahnverkehr sitzen in Autos. Und die allerwenigsten Fahrzeuge, die auf Bahnübergängen von Zügen »erfasst« werden, stehen dort ohne grobe Fahrlässigkeit des Fahrers.

Bild: »aussiegall« bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 30. August 2007

25: Break on through to the other side

Ich bin fern jeder Straßenbahn aufgewachsen und weiß nicht, wie mir der Begriff erklärt wurde. Selber würde ich einem Kind, das danach fragt, etwas sagen wie »Das ist eine Eisenbahn, die auf der Straße fährt«. Doch es ist komplizierter.

Anders als die haarspaltereiaffinen Bezeichnungen »S-Bahn«, »U-Bahn« und »Stadtbahn« ist »Straßenbahn« klar definiert als Schienenbahn, die keine Bergbahn oder Seilbahn ist, Personen im Orts- und Nachbarschaftsbereich befördert, dabei im Straßenraum oder mit vom Verkehren im Straßenraum abgeleiteter Betriebsweise auf eigenem Bahnkörper verkehrt, oder eine Hoch-, Untergrund-, Schwebebahn oder Vergleichbares ist. Eisenbahn ist, was keine Magnetschwebebahn, Bergbahn, Straßenbahn oder sonstige Bahn besonderer Bauart ist.
Straßenbahnen fahren nach der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) auf Grundlage des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG); normalspurige öffentliche Eisenbahnen fahren nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) auf Grundlage des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Alles klar?
Die lockereren Bestimmungen von PBefG und BOStrab lassen zu, dass nicht nur U-Bahnen, sondern auch Wuppertaler Schwebebahn, Dortmunder H-Bahn, und die Terminalbahnen an Flughäfen als Straßenbahnen betrieben werden. Die volkstümliche Vorstellung, dass Straßenbahnen eine kleinere Spurweite hätten als Eisenbahnen, ist Unsinn; es gibt Schmalspureisenbahnen, Straßenbahnen sind meist normalspurig; bei der Wuppertaler Einschienenbahn gibt es keine Spurweite. Auch Gleichstrom ist kein Kriterium - die S-Bahnen Berlin und Hamburg fahren mit Gleichstrom und sind Eisenbahnen.
Der Prinzipunterschied ist, dass Straßenbahnen als auf Sicht im Straßenverkehr mitschwimmend oder davon abgeleitet gedacht sind und Weichen selber stellen, während Eisenbahnen technisch gesichert fahren. Zwar sind das auch die meisten Straßenbahnen mittlerweile, aber die Standards und auch die Signale sind andere.
Diese juristische Abgrenzung hat auch Nachteile. Ein Straßenbahnfahrzeug kann nicht einfach ins Eisenbahnnetz einfahren und umgekehrt.
Trotzdem ist die Vernetzung von Straßenbahn und Eisenbahn sinnvoll. So sinnvoll, dass man in Karlsruhe seit 1957 ständig daran arbeitet, sie in das wuchernde Wunderwerk Stadtbahn Karlsruhe einzuschmelzen, das auf mittlerweile über 400 Netzkilometern Kultstatus unter Verkehrsplanern genießt. Ansätze zu Ähnlichem gibt es in Saarbrücken, Zwickau, Chemnitz, Nordhausen ... und seit elf Tagen in Kassel.
Kassel hatte früher eine Pionierrolle bei der Umstellung auf niederflurige Straßenbahnen und ist die Heimat des »Kasseler Sonderbords«, eines Haltestellenbordsteins, der sich an fast jeder neueren deutschen Bushaltestelle findet. Auch hat man Einfallsreichtum bei der Überlandstrecke nach Hessisch Lichtenau gezeigt, wo es Sechsschienengleise gibt, damit sich Güterzüge und Einrichtungs-Straßenbahnen eine eingleisige Strecke teilen können.
Die neue RegioTram Kassel fährt mit plüschigen Triebwagen aus der Innenstadt durch einen steilen Tunnel unter dem Hauptbahnhofsgebäude hindurch, hält dort in einer nagelneuen Haltestelle und fährt ins Umland. Die Netzlänge der ersten Ausbaustufe beträgt respektable 182 Kilometer.
Einige Züge wechseln dabei von Gleichstrom- auf Wechselstrombetrieb, andere klappen den Stromabnehmer ein und starten Dieselmotoren auf dem Dach: Wer ingeniösen Schienenverkehr mag, hat mit Kassel eine neue Pilgerstätte. Gekostet hat das ganze System übrigens etwas über 180 Millionen Euro - für ein Nahverkehrsprojekt dieser Größenordnung ein Pfennigbetrag.
Es bleibt zu hoffen, dass die Erfolge ausreichen werden, den Träger so weit zu entlasten, dass er die gestern aufgeschobene Reaktivierung der Strecke Korbach-Frankenberg irgendwann wieder ins Auge fassen kann. Aggressiver Ausbau ist das Beste, was man gegen die Defizite im Nahverkehr tun kann; das ist die Lektion von Karlsruhe und hoffentlich bald auch die von Kassel. Vielleicht wird die RegioTram nach Karlsruher und Heilbronner Vorbild irgendwann einmal die Göttinger und Marburger Innenstädte erreichen? Zu machen ist das.

Bild: Jason Rogers bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 23. August 2007

24: Volle Deckung?

Wenn Züge fahren, kostet das. Bautenabschreibungen, Fahrzeuge, Löhne, Energie, Ersatzteile, Gleisbau und so weiter. Dabei gibt es verschiedenste Kostenarten: Fahrzeuge kann man kaufen, leasen oder staatlich gestellt bekommen, Infrastruktur kann man selber betreiben oder gegen Gebühren nutzen. Investitionen zahlt häufig der Staat, selbst wenn es sich eher um Sanierung als um Ausbau handelt. Fahrzeuginstandhaltung kann man selber machen, machen lassen, oder gleich beim Hersteller mitkaufen.

Auf der Einnahmenseite ist es noch unübersichtlicher, vor allem im Nahverkehr, wo die Aufgabenträger Verkehrsleistungen bestellen. Und da gibt es verschiedene Modelle - der Träger kann alle Kosten übernehmen und die Einnahmen behalten; er kann aber auch die Fahrgelder an den Betreiber durchreichen und das Defizit zuschießen; Bonus- und Malussysteme sollen dabei für Einnahmesteigerungen und Qualitätsverbesserungen sorgen. Fahrgeldern sind dabei wieder eine Wissenschaft für sich, weil es Verkehrsverbünde gibt und Fahrkarten, die für Züge mehrerer Betreiber gelten; die Einnahmen werden nach regelmäßigen Fahrgastzählungen in langwierigen Verhandlungen aufgeteilt. Praktisch alle Vergaben von Streckenpaketen im Nahverkehr sind außerdem mischkalkuliert, da die Träger kein Interesse haben, profitable Strecken einzeln zu vergeben, so dass es am Ende sehr teuer würde, noch jemanden zu finden, der die defizitären Reststrecken fährt; die Betreiber wiederum wollen Gewinn und nicht nur eine schwarze Null.
Insofern ist es schwierig zu sagen, wie rentabel eine Bahn arbeitet. Am einfachsten ist es noch bei klassischen städtischen Verkehrsbetrieben, die eigene Infrastruktur betreiben und deren Defizit aus dem Stadthaushalt gedeckt wird. Und man kommt auf überraschende Ergebnisse. Die Hamburger Hochbahn trägt sich zu 85 % selber; die Berliner BVG immerhin noch zu 59 %. Der äußerst gute und erfolgreiche Karlsruher Nahverkehr ist angeblich bei Einzelfahrten rentabel, bei Dauerkarten nicht; allerdings ist das eine Milchmädchenrechnung, da die Fixkosten sehr hoch sind - würde man diesen Rabatt auf Dauerkarten streichen, könnte dies die Fahrgastzahlen so stark senken, dass auch Einzelfahrten defizitär würden. Man nimmt generell an, dass große Teile des Nahverkehrs rentabel sein könnten, wären die Betreiber nicht verpflichtet, Schüler, Soldaten, Zivildienstleistende, Senioren, behinderte Menschen und so weiter ermäßigt oder kostenfrei zu befördern.
Alle Verkehrsbetreiber und -träger, die einigermaßen auf Zack sind, arbeiten an der Verbesserung ihrer Kostendeckung, was am ehesten über Angebotsexpansion funktioniert: Investitionskosten für Streckenbauten, Werkstätten und Fahrzeuge werden stark staatlich bezuschusst; Mehreinnahmen durch neue Fahrgäste kommen dem Betreiber und letztlich dem Träger zu Gute. Auf der Kostenseite lässt es sich hauptsächlich bei der Fahrzeuginstandhaltung sparen - der Kernunterschied zwischen verschiedenen Angeboten bei Ausschreibungen sind meistens die Konzepte dafür, wer die Fahrzeuge wo und wie wartet. Entgegen vieler Propaganda wird kaum an der Lohnschraube gedreht, da es nicht gerade ein Überangebot an qualifiziertem Personal gibt.
Zumindest ist klar: Das beliebte Gerücht, die Fahrgeldeinnahmen im ÖPNV reichten gerade einmal dafür, die Kosten für Fahrscheinverkauf und Kontrolleure zu tragen, ist Unsinn. Insofern muss man auch Forderungen nach kostenlosem, voll über Pflichtbeiträge finanziertem ÖPNV (»Semesterticket für alle«) skeptisch sehen: Es wäre nicht nur unüberschaubar, wie sich diese Lasten mit der zu erwartenden Fahrgaststeigerung entwickeln; vor allem fiele die Motivation, das Angebot attraktiver zu machen, weg. Wozu Fahrgäste gewinnen, wenn sich dies nicht auf die Bilanz auswirkt und die Investitionen dafür doch nur den Beitragszahler belasten? 
Sinnvoll erscheint mir das französische Modell, Industrie- und Gewerbebetriebe über eine Umlage an der Verkehrsfinanzierung zu beteiligen, da der volkswirtschaftliche Nutzen eines verbesserten Nahverkehrs letztlich großenteils bei ihnen anfällt. Vom Ziel eines rentablen öffentlichen Verkehrs sollte man aber nicht abgehen, denn so weit weg ist man davon gar nicht.

Bild: Jan Pešula bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Donnerstag, 16. August 2007

23: Wellenreiter

Im Prellblog 14 ging es darum, wie das bei der Eisenbahn so ist mit den Rädern, und ich hatte versprochen, irgendwann auch über eine Erscheinung namens Sinuslauf zu reden. Heute soll das passieren.

Um noch einmal kurz zu rekapitulieren: Bei einem normalen Eisenbahnfahrzeug bilden je zwei Räder und die sie verbindende Achswelle eine feste Einheit, einen Radsatz. Damit dieser nicht entgleist, hat er überstehende Spurkränze. Ganz vereinfach läuft also die Kante, wo Spurkranz und Radreifen zusammenstoßen, auf der Innenkante des Schienenkopfs, der Fahrkante.
Nun muss aber der Abstand zwischen den Spurkränzen, die Spurweite, ein wenig geringer sein als der zwischen den Fahrkanten, damit sich die Räder nicht zwischen den Schienen verklemmen können. Diese Differenz, das Spurspiel, beträgt je nach Bahnsystem zwischen einigen Millimetern und über einem Zentimeter.
Damit ergibt sich, dass ein Radsatz auf dem Schienenpaar, sofern die Radreifen zylindrisch und die Schienen horizontal sind, in gewissen Grenzen schräg zu den Schienen rollen kann, nämlich solange bis ein Spurkranz anstößt. In der Geraden heißt dies ein ständiges Zickzack mit wechselseitig anlaufenden Rädern, in der Kurve, dass ein Spurkranz fast während des gesamten Durchfahrens des Bogens an einer Schiene schleift.
Insgesamt ist dies nicht sehr befriedigend, schon des Lärms wegen, vom Verschleiß ganz zu schweigen; auch können bei höheren Geschwindigkeiten anlaufende Spurkränze bei genügend seitlichem Druck an der Schienenflanke hochklettern und entgleisen. In der Realität sind daher die Radreifen eben nicht zylindrisch, sondern konisch. Verschiebt sich ein Radsatz seitlich, läuft dadurch ein Rad auf einem größeren Umfang als das andere und eilt voraus; dadurch »lenkt« der Radsatz wieder von der Schiene, an die er anlaufen würde, weg. Insgesamt kommt eine Schwingung der Radsatzmitte um die Gleismitte zustande, die die Form einer Sinuskurve hat; daher der Name Sinuslauf. Idealerweise pendelt der Radsatz dabei im Spurkanal hin und her, ohne mit den Spurkränzen anzulaufen, und wird dabei durch die Gleitreibung bei der Seitenverschiebung gedämpft, bis er gleichmäßig geradeaus läuft. Die Wellenlänge dieser Schwingungen ergibt sich nach der 1883 aufgestellten Klingelschen Formel aus dem Kegelwinkel der Radreifen, den Radien und dem Spurmaß, kann aber auch durch die Aufhängung der Radsätze, die Drehgestellbauweise und Ähnliches beeinflusst werden. Bei hohen Geschwindigkeiten müssen all diese technischen Einflüsse so koordiniert sein, dass sich ein Radsatz nicht bis zur Entgleisung aufschaukeln kann, unter anderem deswegen, weil ab etwa 140 km/h Fahrgeschwindigkeit die Reibungskräfte eines Radsatzes nicht mehr allein zur Dämpfung ausreichen.
Es wird aber noch fitzeliger: Die Radreifen sind nicht nur einfach gerade konisch, sondern haben ein spezielles Profil; außerdem sind die Schienen im Winkel 1:40 nach innen geneigt. Wenn das nicht so wäre, würden die Räder bei ihrer Schwingungsbewegung stets auf derselben Linie auf den Schienen laufen, und das wäre immer noch kein sehr gutes Verschleißverhalten. So aber verlagern sich beim Sinuslauf auch die Auflagepunkte, um das Material zu schonen. Eine Messgröße mit dem schönen Namen »Äquivalente Konizität« gibt wieder, welchem Kegelwinkel im vereinfachten Modell eine bestimmte Situation entspricht, und gehört zu den Parametern, die zum Beispiel bei Hochgeschwindigkeitsstrecken ständig überwacht werden müssen. Man sieht also: Das Zusammenspiel zwischen Fahrzeug und Schiene ist eine komplexe Sache; es reicht nicht, dass das eine auf das andere passt.
Falls doch einmal ein Spurkranz anläuft, ist dieser heute übrigens meistens geschmiert: Es gibt Vorrichtungen, um die Räder oder die Schienenflanken vom Fahrzeug aus, oder bei engen Kurven sogar von der Strecke aus, mit Schmierstoffen zu besprühen. Besonders bei Straßenbahnen, wo noch viel mit zylindrischen Radreifen und daher gänzlich ohne Sinuslauf gefahren wird, ist dies sinnvoll.

Bild: OZinOH bei Flickr (Details und Lizenz)